Die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist konkret und individuell zu ermitteln. Der Begriff der MdE enthält aber auch ein abstraktes Element, da er sich auf den Verlust der Erwerbsmöglichkeit auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens bezieht und nicht nur auf den bisherigen Beruf.
1. Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens
Neben der Feststellung der Beeinträchtigung des Leistungsvermögens des Versicherten ist die Anwendung medizinischer und arbeitskundlicher Erfahrungssätze erforderlich, um die verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens zu bestimmen, § 56 Abs. 2 S. 1 SGB VII.
Das Bundessozialgericht hat in einem Urteil vom 2. Mai 2001 die Grundsätze der Bemessung der MdE zusammengefasst (BSG, 2. Mai 2001 – B 2 U 24/00 R):
„Als Ergebnis dieser Wertung ergibt sich die Erkenntnis über den Umfang der dem Versicherten versperrten Arbeitsmöglichkeiten. Hierbei kommt es stets auf die gesamten Umstände des Einzelfalles an. Bei Berufskrankheiten richtet sich die MdE – wie bei den Unfallfolgen – einerseits nach der Schwere des Krankheitszustandes sowie andererseits nach dem Umfang der dem Erkrankten verbliebenen Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens.“
2. Besondere berufliche Betroffenheit
Bei der Bemessung der MdE sind auch Nachteile zu berücksichtigen, wenn eine besondere berufliche Betroffenheit vorliegt. Dies gilt insbesondere, wenn die Versicherten infolge des Versicherungsfalls bestimmte berufliche Kenntnisse und Erfahrungen nicht mehr nutzen können, § 56 Abs. 2 S. 3 SGB VII.
Das BSG erkennt eine solche besondere berufliche Betroffenheit jedoch nur in engen Ausnahmefällen an. Zum Beispiel bei einem Flugkapitän, der aufgrund berufsbedingter Schwerhörigkeit seinen Beruf nicht mehr ausüben konnte, hat das Gericht Folgendes entschieden (BSG, 4. Dezember 1991 – 2 RU 47/90):
„Das BSG hat betont, dass aus den Umständen des Berufsverlustes nicht zwangsläufig auf eine unbillige Härte geschlossen werden kann. Eine höhere Bewertung der MdE kommt nur dann in Betracht, wenn der Versicherte seine bisherigen Kenntnisse und Fähigkeiten nur unter Inkaufnahme eines unzumutbaren sozialen Abstiegs verwerten kann. Maßgeblich sind Alter, Ausbildungsdauer, Dauer der Berufstätigkeit und die bisherige soziale Stellung.“
3. Ermittlung und Beweislast
Die Feststellung der MdE erfolgt auf Grundlage medizinischer Sachverständigengutachten. Diese müssen die funktionellen Auswirkungen der Verletzungen oder Erkrankungen nachvollziehbar beschreiben und deren Einfluss auf die Erwerbsfähigkeit im allgemeinen Arbeitsleben bewerten. Dabei gilt der Grundsatz der freien Beweiswürdigung durch den Unfallversicherungsträger.
Der Versicherte trägt die Beweislast für das Vorliegen einer unfallbedingten MdE. Eine bloße ärztliche Diagnose reicht nicht aus; erforderlich ist eine nachvollziehbare Verbindung zwischen Gesundheitsschaden und eingeschränkter Erwerbsfähigkeit. Die Beweismaßstäbe richten sich nach den allgemeinen sozialrechtlichen Regeln (§ 128 Abs. 1 SGG).
4. Rechtsprechungsüberblick
Das Bundessozialgericht hat die Maßstäbe der MdE-Bemessung in mehreren Entscheidungen weiterentwickelt:
- BSG, 18.10.1984 – 2 RU 37/83: Maßgeblich ist die abstrakte Beurteilung der Erwerbsmöglichkeiten im gesamten Erwerbsleben, nicht im bisherigen Beruf.
- BSG, 02.05.2001 – B 2 U 24/00 R: Konkretisierung der Methode der abstrakten Schadensbewertung bei Berufskrankheiten.
- BSG, 04.12.1991 – 2 RU 47/90: Grundsatzentscheidung zur besonderen beruflichen Betroffenheit und unbilligen Härte.
- BSG, 27.06.2017 – B 2 U 16/15 R: Aktualisierte Maßstäbe für die ärztliche MdE-Bewertung bei mehreren Gesundheitsschäden.
Insgesamt ergibt sich, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit stets im Gesamtzusammenhang zwischen medizinischer Einschränkung und wirtschaftlicher Verwertbarkeit der Arbeitskraft zu sehen ist.
5. Häufige Fragen
Was bedeutet Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE)?
Die MdE beschreibt, in welchem Umfang ein Versicherter durch Unfall oder Berufskrankheit in seiner Fähigkeit beeinträchtigt ist, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt tätig zu sein. Sie wird in Prozent bemessen (§ 56 Abs. 2 SGB VII).
Wie wird die MdE festgestellt?
Die Feststellung erfolgt auf Grundlage medizinischer Gutachten. Entscheidend ist, wie stark die Arbeitsmöglichkeiten auf dem gesamten Gebiet des Erwerbslebens eingeschränkt sind – nicht nur im bisherigen Beruf.
Welche Rolle spielt die „besondere berufliche Betroffenheit“?
In Ausnahmefällen kann eine höhere MdE anerkannt werden, wenn der Versicherte seine beruflichen Kenntnisse und Erfahrungen infolge des Versicherungsfalls nicht mehr nutzen kann und dadurch ein unzumutbarer sozialer Abstieg droht (§ 56 Abs. 2 S. 3 SGB VII).
Wie hoch muss die MdE sein, um Anspruch auf eine Rente zu haben?
Eine Verletztenrente wird gezahlt, wenn die MdE mindestens 20 % beträgt (§ 56 Abs. 1 SGB VII). Bei mehreren kleineren Beeinträchtigungen kann sich die Gesamt-MdE summieren.
Wer trägt die Beweislast für eine MdE?
Grundsätzlich trägt der Versicherte die Beweislast. Er muss nachweisen, dass eine unfallbedingte oder berufskrankheitsbedingte Einschränkung der Erwerbsfähigkeit vorliegt.
6. Weiterführende Beiträge & Rechtsgrundlagen
Weiterführend zur Bemessung der MdE, Berufskrankheiten und gesetzlichen Unfallversicherung:



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