Mitwirkungspflichten im Sozialrecht spielen insbesondere bei Streitigkeiten um eine Rente wegen Erwerbsminderung eine große Rolle. Oft geht es darum, ob eine Heilbehandlung zumutbar ist oder warum eine solche nicht durchgeführt wurde.
1. Heilbehandlung, § 63 SGB I
Wer wegen Krankheit oder Behinderung Sozialleistungen oder Leistungen der Sozialversicherungen beantragt oder erhält, soll sich auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers einer Heilbehandlung unterziehen, wenn zu erwarten ist, dass die Heilbehandlung eine Besserung des Gesundheitszustandes herbeiführen oder eine Verschlechterung verhindern wird, § 63 SGB I.
Die Mitwirkungspflicht setzt voraus, dass der Gesundheitszustand eines Sozialleistungsberechtigten gebessert werden kann, die Verpflichtung besteht also nicht bei jeder vorhandenen Krankheit. Eine Besserung ist auch nur dann von Belang, wenn sie sich auf den von der Leistung umfassten Bereich auswirkt. Wäre von einer Besserung lediglich der von der Sozialleistung nicht umfasste Privatbereich betroffen, besteht also keine Mitwirkungspflicht.
Bei der „Mitwirkungspflicht“ gemäß § 63 SGB I handelt es sich nicht um eine Pflicht im Rechtssinne. Es handelt sich um eine Obliegenheit, deren Nichtbefolgung den Leistungsträger zum Handeln nach § 66 SGB I veranlassen kann.
2. Grenzen der Mitwirkung, § 65 SGB I
Die Grenzen der Mitwirkung hinsichtlich der Behandlungen und Untersuchungen regelt § 65 Abs. 1 und Abs. 2 SGB I. So können Behandlungen und Untersuchungen abgelehnt werden,
- bei denen im Einzelfall ein Schaden für Leben oder Gesundheit nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen werden kann;
- die mit erheblichen Schmerzen verbunden sind;
- die einen erheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit bedeuten.
So ist niemand verpflichtet, sich einer riskanten Operation zu unterziehen, um eine Leistung zu erhalten.
3. Folgen fehlender Mitwirkung, § 66 SGB I
Nach § 66 Abs. 2 SGB I kann der Leistungsträger Leistungen ganz oder teilweise versagen oder entziehen, wenn der Leistungsempfänger seiner Mitwirkungspflicht gemäß den § 63 SGB I nicht nachkommt und deshalb die Voraussetzungen der Leistungen nicht nachgewiesen sind bzw. deshalb die Fähigkeiten des Leistungsempfängers beeinträchtigt oder nicht verbessert sind.
Die Versagung oder ein Entzug ist aber gemäß § 66 Abs. 3 SGB I nur dann zulässig, wenn dem Leistungsberechtigten zuvor ein schriftlicher Hinweis auf diese Folgen erteilt worden ist und der Leistungsberechtigte seiner Leistungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist. § 66 Abs. 2 SGB I räumt dem Leistungsträger zwar einen Ermessensspielraum ein. Dennoch ist und bleibt zwingende Voraussetzung für die Entziehung oder Versagung der Leistung, dass der Leistungsberechtigte einen schriftlichen Hinweis mit einer angemessenen Fristsetzung auf die drohende Entziehung und/oder Versagung erhalten hat.
Die Versagung oder der Entzug ist zeitlich begrenzt bis zur Nachholung der bislang verweigerten Mitwirkung. Wird die Mitwirkung nachgeholt und liegen die Leistungsvoraussetzungen vor, dann muss der Leistungsträger Sozialleistungen, die er nach § 66 SGB I versagt oder entzogen hat, nachträglich ganz oder teilweise erbringen, § 67 SGB I.
4. Weiterführende Beiträge & Rechtsgrundlagen
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- Mitwirkungspflichten SGB I (60–66) | Erklärung, Grenzen & Folgen
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Uwe says
Guten Tag,
ich (59) habe eine Frage zur Mitwirkungspflicht bei voller Erwerbsminderungsrente:
Ich bin schon einige Jahre arbeitsunfähig, ausgesteuert und war auf Veranlassung der Agentur für Arbeit erneut in einer Reha und dort wurde mir empfohlen eine EMR zu beantragen, was ich auch gemacht habe. Ich warte noch auf den Bescheid. Laut Gutachten der Klinik wurde eine 2 Jährige Befristung der vollen EMR empfohlen mit einer positiven Prognose für die Arbeitsfähigkeit bei weiterer ambulanter Psychotherapie.
Muss ich die auf jeden Fall machen? Leider glaube ich nicht an eine Besserung durch diese Therapie und Covid macht es auch nicht einfacher. Können mir Nachteile dadurch entstehen, z.B. bei der Verlängerung der EMR?
Vielen Dank und Gruß
Uwe
Rechtsanwalt S. Nippel says
Hallo Uwe,
wenn die Klinik doch der Auffassung ist, dass die Reha Sinn macht und dass die Rente auf 2 Jahre zu befristen ist, dann dürfte zumindest theoretisch eine Reha auch Sinn machen. Wenn diese Annahme der Klinik völliger Unsinn sein sollte und dies auch nachweisbar ist, dann dürfte im Ergebnis eine Mitwirkungspflicht nicht bestehen. Allerdings würde sich dann die Frage stellen, warum die Klinik anderer Ansicht ist und darüber hinaus die Sozialversicherungsträger bereit ist, eine kostspielige Reh zu veranlassen.
Aber warum nutzen Sie nicht einfach das Angebot und gehen optimistisch an die Sache ran?
Der Versicherte soll Leistungen zur medizinischen Rehabilitation in Anspruch nehmen, wenn zu erwarten ist, dass damit eine Besserung des Gesundheitszustands herbeigeführt oder eine Verschlechterung verhindert wird, § 63 letzter Halbsatz SGB I. Wer wegen Minderung der Erwerbsfähigkeit, anerkannten Schädigungsfolgen oder wegen Arbeitslosigkeit Sozialleistungen beantragt oder erhält, soll auf Verlangen des zuständigen Leistungsträgers an Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben teilnehmen, wenn bei angemessener Berücksichtigung seiner beruflichen Neigung und seiner Leistungsfähigkeit zu erwarten ist, dass sie seine Erwerbs- oder Vermittlungsfähigkeit auf Dauer fördern oder erhalten werden, § 64 SGB I.
Ausnahmen bestehen im Rahme des § 65 SGB I.
Kommt derjenige, der eine Sozialleistung wegen Pflegebedürftigkeit, wegen Arbeitsunfähigkeit, wegen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit, anerkannten Schädigungsfolgen oder wegen Arbeitslosigkeit beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 62 bis 65 nicht nach und ist unter Würdigung aller Umstände mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass deshalb die Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung, die Arbeits-, Erwerbs- oder Vermittlungsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht verbessert wird, kann der Leistungsträger die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, § 66 Abs. 2 SGB I.
Grüße
Sönke Nippel
Rechtsanwalt