§ 44 SGB X – Rücknahme eines rechtswidrigen nicht ...
(4 Beiträge mit § 44 SGB X – Rücknahme eines rechtswidrigen nicht ...)
1. Gesetzestext (Stand: 30.09.2025)
- (1) Soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass eines Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind, ist der Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen. Dies gilt nicht, wenn der Verwaltungsakt auf Angaben beruht, die der Betroffene vorsätzlich in wesentlicher Beziehung unrichtig oder unvollständig gemacht hat.
- (2) Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden.
- (3) Über die Rücknahme entscheidet nach Unanfechtbarkeit des Verwaltungsaktes die zuständige Behörde; dies gilt auch dann, wenn der zurückzunehmende Verwaltungsakt von einer anderen Behörde erlassen worden ist.
- (4) Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden, werden Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuches längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme erbracht. Dabei wird der Zeitpunkt der Rücknahme von Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird. Erfolgt die Rücknahme auf Antrag, tritt bei der Berechnung des Zeitraumes, für den rückwirkend Leistungen zu erbringen sind, anstelle der Rücknahme der Antrag.
2. Kommentierung
I. Grundgedanke
§ 44 SGB X ersetzt die früher nur vereinzelt vorhandenen Vorschriften über sog. Zugunstenbescheide. Die Norm durchbricht die Bestandskraft unanfechtbarer Verwaltungsakte, wenn diese rechtswidrig sind und den Betroffenen belasten. Damit wird eine nachträgliche Korrektur zugunsten des Bürgers ermöglicht.
II. Verhältnis zu anderen Rechtsbehelfen
Ein Antrag nach § 44 SGB X setzt nicht zwingend Unanfechtbarkeit voraus. Ist der Bescheid noch anfechtbar, sind Widerspruch oder Klage der vorrangige Weg. Vorteil: dort liegt die Darlegungs- und Beweislast eher bei der Behörde.
III. Abgrenzung zu § 45 SGB X
Die Vorschrift gilt nur für belastende Verwaltungsakte. Bei begünstigenden Verwaltungsakten kommt § 45 SGB X zur Anwendung. Maßgeblich ist der Schwerpunkt des Verwaltungsaktes.
IV. Rücknahme und zeitliche Grenzen
Nach § 44 Abs. 4 SGB X sind Leistungen für die Vergangenheit grundsätzlich auf vier Jahre beschränkt. Der Zeitraum wird vom Jahr der Antragstellung an zurückgerechnet. Dies gilt sowohl für einmalige Leistungen als auch für Dauerleistungen.
Wird ein Überprüfungsantrag am 30.12.2021 erfolgreich gestellt, können Leistungen ab dem 1.1.2017 nachgezahlt werden – faktisch also für fünf Kalenderjahre.
V. Besonderheiten im SGB II
In § 40 Abs. 1 Nr. 2 SGB II ist geregelt, dass die Rücknahmefrist des § 44 Abs. 4 SGB X für das SGB II (Bürgergeld/Hartz IV) auf ein Jahr verkürzt wird. Entsprechende Einschränkungen gibt es im SGB XII in § 116 a Nr. 2 SGB XII.
VI. Verfahren und Rechtsmissbrauch
Die Überprüfung erfolgt auf Antrag, nicht von Amts wegen. Behörden kritisieren teilweise eine Vielzahl gleichlautender Anträge. Bei querulatorischem Verhalten mag die Ablehnung berechtigt sein. Im Regelfall gilt aber: die Behörde muss jeden Antrag sachlich prüfen.
VII. Entstehungsgeschichte (BT-Drs.)
BT-Drs. 8/2034 (1979 – Entwurf SGB X)
Bereits im Entwurf von 1979 wird § 44 als allgemeine Norm zur Rücknahme rechtswidriger, nicht begünstigender Verwaltungsakte konzipiert. Der Gesetzgeber wollte mit dieser Vorschrift eine einheitliche Grundlage für Zugunstenentscheidungen schaffen, die bis dahin nur punktuell im Sozialrecht geregelt waren. Hervorgehoben wird die Durchbrechung der Bestandskraft, wenn Sozialleistungen zu Unrecht vorenthalten oder Beiträge zu Unrecht erhoben wurden.
BT-Drs. 8/4022 (1980 – Beschlussempfehlung und Bericht)
Die Begründung betont, dass § 44 SGB X eine zwingende Rücknahme vorsieht, wenn ein Verwaltungsakt auf einer fehlerhaften Rechtsanwendung beruht. Für die Vergangenheit wird die Nachzahlung auf vier Jahre beschränkt, um Verwaltung und Sozialleistungsträger vor übermäßiger Rückwirkung zu schützen. Zugleich soll die Vorschrift den Bürgern eine verlässliche Anspruchsgrundlage für Überprüfungsanträge geben.
3. Beitragsliste
In den folgenden Beiträgen habe ich § 44 SGB X angesprochen:
Überprüfungsantrag nach § 44 SGB X: Bestandskräftige Bescheide korrigieren
... eine Besonderheit im Sozialrecht beinhaltet der Antrag auf Überprüfung gemäß § 44 SGB X ... bestandskräftige Entscheidungen können noch überprüft werden ...
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Wann und wie können Verwaltungsakte aufgehoben werden? §§ 44-49 SGB X regeln Rücknahme, Widerruf und Änderung von Bescheiden – mit Beispielen & Prüfschema
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§ 45 (anfänglich rechtswidrig) und § 48 SGB X (Änderung der Verhältnisse) verständlich erklärt: Vertrauensschutz, Rückwirkung, Jahresfrist, § 330 SGB III, Prüfschemata.
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