Die Rechtsprechung hat das Rechtsinstitut des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs geschaffen, um durch Pflichtverletzungen der Behörde entstandene Schäden auszugleichen. Dieser Ausgleich ist deshalb bemerkenswert, weil ein Verschulden der Behörde – wie sonst im Schadensrecht zumeist üblich – nicht erforderlich ist.
- Insbesondere bei einer unrichtigen oder unvollständigen Beratung des Bürgers entgegen § 14 Beratung
Jeder hat Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch. Zuständig für …
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 14 S. 1 SGB I kommen Schadenersatzansprüche des Geschädigten gegen den Sozialleistungsträger in Betracht. Anknüpfungspunkt kann aber auch die Verletzung von Auskunftspflichten gemäß § 15 Auskunft
(1) Die nach Landesrecht zuständigen Stellen, die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung …
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)15 SGB I und die Verletzung von Betreuungspflichten sein. - Die Pflichtverletzung der Behörde muss objektiv rechtswidrig sein.
- Anders als bei dem verwaltungsrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch setzt der sozialrechtliche Herstellungsanspruch kein Verschulden voraus.
- Durch die Pflichtverletzung muss ein sozialrechtlicher Schaden entstanden sein.
- Der Geschädigte ist dann so zu stellen, als hätte die Behörde rechtmäßig gehandelt. Es geht also um die Naturalrestitution, d.h. die Vornahme der unterlassenen oder fehlerhaften Amtshandlung.
Beispiel:
Das BSG entschied am 27. März 2007 durch Urteil, dass eine Regelaltersrente bei einem verspäteten Rentenantrag bis zu 4 Jahre rückwirkend gewährt werden kann, wenn die verspätete Antragstellung allein auf einem Verschulden des Rentenversicherungsträgers im Hinblick auf § 115 Abs. 6 SGB VI beruht (www.sozialgerichtsbarkeit.deB 13 R 58/06):Der zum Zeitpunkt der Antragstellung 71-jährige Kläger hatte bis zur Antragstellung im Jahr 2001 „übersehen“, dass er bereits im Jahr 1995 eine Rente hätte beantragen können. Der Rentenversicherungsträger, der die Hinweispflicht gemäß § 115 Abs. 6 SGB VI verletzt hatte, den Berechtigten auf die Möglichkeit des Leistungserhalts hinzuweisen, musste aber nur von 1997 an die Regelaltersrente rückwirkend zahlen.
Die Begrenzung des Herstellungsanspruchs auf 4 Jahre folgt laut dem Bundessozialgericht aus § 44 Abs. 4 SGB X.
Beratung und Auskunft gemäß den §§ 14 f. SGB I:
- Jeder hat Anspruch auf Beratung über seine Rechte und Pflichten nach diesem Gesetzbuch. Zuständig für die Beratung sind die Leistungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind.
zu § 14 SGB I:
Die Vorschrift gibt dem Bürger einen Anspruch auf umfassende Beratung durch den zuständigen Leistungsträger, der aufgrund seiner Sachkenntnis für diese Aufgabe am besten geeignet ist. Die Beratungspflicht erstreckt sich auf alle sozialrechtlichen Fragen, die für den Bürger zur Beurteilung seiner Rechte und Pflichten von Bedeutung sind oder in Zukunft von Bedeutung sein können, soweit er hieran ein berechtigtes Interesse hat (vgl. BT-Drucks 7/868, Seite 25).
- (1) Die nach Landesrecht zuständigen Stellen, die Träger der gesetzlichen Krankenversicherung und der sozialen Pflegeversicherung sind verpflichtet, über alle sozialen Angelegenheiten nach diesem Gesetzbuch Auskünfte zu erteilen.
- (2) Die Auskunftspflicht erstreckt sich auf die Benennung der für die Sozialleistungen zuständigen Leistungsträger sowie auf alle Sach- und Rechtsfragen, die für die Auskunftssuchenden von Bedeutung sein können und zu deren Beantwortung die Auskunftsstelle imstande ist.
- (3) Die Auskunftsstellen sind verpflichtet, untereinander und mit den anderen Leistungsträgern mit dem Ziel zusammenzuarbeiten, eine möglichst umfassende Auskunftserteilung durch eine Stelle sicherzustellen.
- (4) Die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung können über Möglichkeiten zum Aufbau einer nach § 10a oder Abschnitt XI des Einkommensteuergesetzes geförderten zusätzlichen Altersvorsorge Auskünfte erteilen, soweit sie dazu im Stande sind.
zu § 15 SGB I:
Häufig kann der einzelne gar nicht übersehen, welche Sozialleistungen für ihn in Betracht kommen und an welchen Leistungsträger er sich wenden muss. Damit der, der Sozialleistungen in Anspruch nehmen will oder muss, nicht von einer Stelle an die andere verwiesen wird und durch die institutionelle Gliederung des Sozialleistungssystems Nachteile erleidet, sind ortsnahe Stellen nötig, die einerseits engen Kontakt zum Bürger haben, andererseits aber der Vielseitigkeit der Aufgabe gewachsen sind, über alle sozialen Angelegenheiten Auskunft zu geben.
… (vgl. BT-Drucks 7/868, Seite 25)
Wenn ein Ausgleich über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch nicht erreicht werden kann, sollte auch geprüft werden, ob Ersatz über den ein Verschulden voraussetzenden Amtshaftungsanspruch gemäß § 839 Haftung bei Amtspflichtverletzung
(1) Verletzt ein Beamter vorsätzlich oder fahrlässig die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so hat er dem Dritten den daraus entstehenden Schaden zu ersetzen.
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 839 BGB möglich ist.
Im Ergebnis kann über den Amtshaftungsanspruch gemäß § 839 BGB ein Schadenersatzanspruch gegenüber der eine Beratungspflicht verletzenden Behörde geltend gemacht werden, wenn die Voraussetzungen des sozialrechtlichen Herstellungsanspruches nicht vorliegen bzw. wenn über den sozialrechtlichen Herstellungsanspruch ein Ausgleich des entstandenen Schadens nicht möglich ist – vgl. dazu den Beitrag Schadenersatz wegen Verletzung einer Beratungspflicht.
Pseudomym says
Mir widerfährt gerade eine Situation, die genau zu den Ausführungen oben aasst.
ArGe hat nicht beraten, bzw. Auskünfte nicht erteilt selbstständiger Kunde hat sich die Infos langwierig selbst geholt bzw. holen müssen und nun entstehen durch die Langwierigkeit und die verkorkste Berechnung uber 2 Bewilligungszeiträume, so schwere Nachteile, dass der Kunde die Selbstständigkeit vermutlich demnächst aufgeben muss.
Das ganze liegt zwar seit Wochen beim SG Stuttgart, das aber lässt sich nun auch über den nächsten Berechnungszeitraum Zeit. Somit zeigt sich einmal mehr dass Recht haben und (Un)Recht bekommen oft nur eine Frage der Zeit ist.
W. Bauer says
Im Okt. 2008 wurde mein Rentenantrag von dem Versichertenberater der Deutschen Rentenversicherung Bayern Süd ausgefüllt. Im Jahr 2018 wurde ich von der TK-Krankenversicherung darauf aufmerksam gemacht, dass meine Kinder bei der Spalte Pflegeversicherung nicht eingetragen sind deshalb seit 10 Jahren ein erhöhter Pflegebeitrag einbehalten wurde.
Nach Akteneinsicht ergibt sich zwar, dass im Antrag die Frage nach Kindern verneint wurde. Dies entspricht jedoch nicht meinen Angaben. Diese Frage wurde durch den Versichertenberater falsch angekreuzt. Der Antrag wurde von mir im Vertrauen auf die korrekten Angaben unterschrieben.
Jan says
Sehr geehrte Frau Nippel,
wegen einem Arbeitsunfall (1988 während der Berufsausbildung in der DDR) erhalte ich seit meiner Ausreise in die BRD (13.01.90) eine Unfallrente. Am 7.09.2021 stellte ich einen Antrag auf Überprüfung des Jahresarbeitsverdienstes. Wie sich voraussichtlich herausstellen wird, wurde der JAV falsch ermittelt. Es wurde eine fasche Tarifgruppe zu Grunde gelegt,(Gleichstellung durch Einigungsvertrag 37 wurde nicht berücksichtigt), Zulagen für 3 schichtige Vollkontiarbeit nicht berücksichtigt und die Anpassung des JAV wegen 573 RVO und 90 SGB VII nicht berücksichtigt.
Beantrage ich nun die sozialrechtliche Widerherrstellung zum Zeitpunkt des ersten Bescheides und wirkt er dann auch zu diesem Zeitpunkt? Oder bekomme ich maximal 4 Jahre vor meinem Antragsjahr auf Überprüfung des JAV Leistungen nachgezahlt. Muss ich dann gleichzeitig auf Schadenersatz wegen Amtspflichtverletzung klagen?
Für eine kurze Antwort wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Freundlicher Gruß
Jan
Rechtsanwalt S. Nippel says
Hallo Jan,
hier sprechen Sie eine für mich recht unüberschaubare Problematik der vierjährigen Verjährung an. Deshalb schreiben ich einfach nur einige „Gedankenfragmente“ auf. Insgesamt sind die Fragestellungen zu komplex, um hier „auf die Schnelle“ behandelt werden zu können:
Wenn ein Berechtigter Anspruch auf rückwirkende Leistungen aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hat, werden diese längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren rückwirkend erbracht. Die Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB X ist insoweit entsprechend anzuwenden …
… die Einrede der Verjährung könnte ggf. durch die Rentenversicherung erhoben werden (dies könnte allerdings rechtsmissbräuchlich sein) …
Ob darüber hinaus auch eine Amtspflichtverletzung gemäß § 839 BGB vorliegt, müsste ggf. gesondert geprüft werden … zu beachten ist allerdings, dass der sozialrechtliche Herstellungsanspruch setzt kein Verschulden des Sozialleistungsträgers voraussetzt …
… auch bei einem Amtshaftungsanspruch müssen Sie ggf. Fragen der Verjährung beachten (evtl. drei Jahre ab Kenntnis …).
Grüße
Sönke Nippel
Rechtsanwalt