Wegen fehlender Mitwirkung können Sozialleistungen ganz oder teilweise versagt werden, § 66 Abs. 1 S. 1 SGB I und § 66 Abs. 2 SGB I. Allerdings muss dann die Behörde belegen, dass eine Mitwirkungspflicht gemäß den §§ 60 ff. SGB I bestand und verletzt wurde. Darüber hinaus muss die Behörde den Betroffenen auf die möglichen Rechtsfolgen gemäß § 66 Abs. 3 SGB I hinweisen.
1. Verletzung einer Mitwirkungspflicht gemäß den §§ 60 ff. SGB I
Die konkreten Mitwirkungspflichten enthalten die §§ 60 bis 64 SGB I.
Zu unterscheiden sind die Pflicht zur Angabe von Tatsachen sowie Bezeichnung und Vorlage von Beweismitteln, Mitteilung von Änderungen in den Verhältnissen, das persönliche Erscheinen und die Duldung von Untersuchungsmaßnahmen nach den § 60 SGB I bis § 62 SGB I und die Mitwirkung an Heilmaßnahmen und Maßnahmen zur Teilhabe am Arbeitsleben nach den §§ 63 SGB I und § 64 SGB I.
Bei einer Verletzung von Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62 SGB I in den Grenzen von § 65 SGB I gilt § 66 Abs. 1 SGB I, bei einer Verletzung von Mitwirkungspflichten gemäß den §§ 62 bis 65 SGB I gilt § 66 Abs. 2 SGB I.
2. Ermessensausübung gemäß § 66 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 SGB I
Die Behörde „kann“ bei fehlender Mitwirkung Leistungen ganz oder teilweise versagen, § 66 Abs. 1 S. 1 und Abs. 2 SGB I. Sie muss also ihr Ermessen über die Leistungsentziehung oder -versagung ausüben.
Die Behörde muss die Umstände einer fehlenden Mitwirkung beim Leistungsberechtigten im Rahmen der abschließend zu treffenden Ermessensentscheidung abwägen und im Fall einer ganz oder teilweisen Leistungsversagung oder -entziehung angemessen zu berücksichtigen.
3. Konkrete Hinweispflicht gemäß § 66 Abs. 3 SGB I
Nach § 66 Abs. 3 SGB I dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist. Der in § 66 Abs 3 SGB I vorgesehene schriftliche Hinweis ist eine zwingende (formelle) Voraussetzung für die Versagung oder Entziehung einer Sozialleistung wegen fehlender Mitwirkung im Verwaltungsverfahren.
Dieser Hinweis muss die notwendige Bestimmtheit aufweisen, damit der zur Mitwirkung Aufgeforderte eindeutig erkennen kann, was ihm bei Unterlassung der Mitwirkung droht. Daher darf sich der Hinweis nicht auf eine allgemeine Belehrung oder Wiedergabe des Gesetzeswortlauts beschränken, sondern muss anhand der dem Leistungsträger durch § 66 Abs 1 SGB I eingeräumten Entscheidungsalternativen unmissverständlich und konkret die Entscheidung bezeichnen, die im Einzelfall beabsichtigt ist, wenn der Betroffene dem Mitwirkungsverlangen innerhalb der gesetzten Frist nicht nachkommt.
Die Behörde darf nicht nur „allgemein“ auf die Mitwirkungsvorschriften in den §§ 60 ff. SGB I hinweisen und eine Entscheidung nach Lage der Akten ankündigen. So entschied das Bundessozialgericht (BSG, 12. Oktober 2018 – B 9 SB 1/17 R):
[32] cc) Die vorgenannten Anforderungen an einen vorherigen Hinweis mit Rechtsfolgenkonkretisierung nach § 66 Abs 3 SGB I erfüllt das mit „Aufforderung zur Mitwirkung“ überschriebene Schreiben des Beklagten vom 19.3.2012 nicht. Es weist lediglich allgemein auf die Mitwirkungsvorschriften in den §§ 60 ff. SGB I hin und kündigt eine Entscheidung nach Lage der Akten an, falls innerhalb von zwei Wochen keine ausreichende Äußerung vorliege. Eine für diesen Fall voraussichtlich zu treffende konkrete Entscheidung – ggf mit Hinweis auf Teil B 14.1 der Anlage zu § 2 VersMedV – wegen Ablaufs der Heilungsbewährung nach Brustkrebserkrankung bei einem Brustteilverlust rechts mit nachfolgend möglicher Einzel-GdB-Absenkung bei Rezidivfreiheit auf 10 fehlt. …
4. Fristsetzung gemäß § 66 Abs. 3 SGB I
Nach § 66 Abs 3 SGB I dürfen Sozialleistungen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist. Die Behörde muss also eine angemessene Frist zur Nachholung der Mitwirkungspflicht gewähren.
Eine solche Frist kann nicht für alle Fälle gleich lang festgesetzt werden. Die Behörde muss abwägen, welcher Zeitraum voraussichtlich erforderlich sein wird, die Mitwirkungshandlung nachzuholen. Dabei sind auch Zeiträume einzubeziehen, die voraussichtlich benötigt werden, um Dritte beizuziehen, sofern der Berechtigte sie einschalten muss. Die Nachholung der Mitwirkungspflicht muss also erfüllbar sein. Die Frist muss realistisch sein (Postlaufzeit, Arzttermine, Drittbeteiligung)
5. Rechtsfolge
Die Versagung oder der Entzug einer Sozialleistung ist zeitlich begrenzt. Nur bis zur Nachholung kann die Leistung entzogen oder versagt werden, § 66 Abs. 1 S. 1 letzter Halbsatz SGB I und § 66 Abs. 2 SGB I.
Die Leistung lebt wieder auf, sobald die Mitwirkung nachgeholt wurde (§ 66 Abs. 1 HS 2 SGB I).
6. Rechtsschutz
Gegen eine Entscheidung zur Entziehung der Leistung kann Widerspruch und Anfechtungsklage erhoben werden, § 78 SGG und § 54 Abs. 4 SGG.
Geht es um eine Versagung, besteht Rechtsschutz über Widerspruch und die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage, §§ 78, § 54 Abs. 1 SGG.
Der Widerspruch und die Anfechtungsklage gegen die Entziehung der Leistung hat gemäß § 86 a Abs. 1 SGG aufschiebende Wirkung. Die Leistungen sind weiter zu gewähren. Der Leistungsträger kann den Sofortvollzug anordnen. Anderes kann gemäß § 41 Abs. 3 SGB II beim Hartz 4 gelten, wenn der Bewilligungszeitraum bereits abgelaufen sein sollte. Dann kann der Zahlungsantrag als neuer Antrag zu verstehen sein.
7. Weiterführende Beiträge & Rechtsgrundlagen
Vertiefende Beiträge zu den Mitwirkungspflichten:
- Mitwirkungspflichten SGB I (60–66) | Erklärung, Grenzen & Folgen
Welche Mitwirkungspflichten gibt es nach dem SGB I (§§ 60–66)? Erklärung zu Tatsachenangabe, persönlichem Erscheinen, Untersuchungen, Heilbehandlung & Grenzen (§ 65) – plus Folgen fehlender Mitwirkung (§ 66) & Aufwendungsersatz (§ 65a)
... | mehr - Mitwirkungspflichten im Bürgergeld (SGB II): § 56–62 – Dritte, eAU & Folgen (§ 66 SGB I)
Mitwirkungspflichten im SGB II: AU melden (§ 56), Pflichten Dritter (§ 57–60), VuE-Beweislast, Datenschutz (§§ 67 ff. SGB X), Versagung/Entziehung (§ 66 SGB I). Mit Checkliste & Muster.
... | mehr - Mitwirkungspflicht Heilbehandlung: Folgen & Grenzen nach SGB I
Erfahren Sie, welche Mitwirkungspflichten bei Heilbehandlung nach § 63 SGB I gelten, wann diese begrenzt sind (§ 65 SGB I) und welche Folgen (§ 66 SGB I) fehlende Mitwirkung haben kann.
... | mehr - Kontoauszüge & Mitwirkungspflicht beim Bürgergeld (§§ 60 ff. SGB I, § 67 SGB X)
Bürgergeld-Empfänger müssen Kontoauszüge vorlegen – aber was darf geschwärzt werden? Das BSG hat 2008 das Recht zur Schwärzung sensibler Daten bestätigt (§ 67 SGB X). Alles zu Pflicht, Datenschutz & Hinweispflicht des Jobcenters.
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Jasmin says
Hallo,
ich beziehe volle Erwerbsminderungsrente und zusätzlich Grundsicherung. Vor ca 1 Jahr wurde meine Rente etwas erhöht. Ich hatte vergessen, das dem Amt mit zu teilen.
Jetzt kamen Sie mir darauf, weil ich den neusten Rentenbescheid hin schicken musste.
Wieviel kann das Amt zurück behalten und wie lang?
Es geht um einen Betrag von 331,21€.
Bitte um Antwort, danke.
Mit freundlichen Grüßen
Jasmin
Rechtsanwalt S. Nippel says
Hallo Jasmin,
dass es jährlich eine Rentenerhöhung gibt, dürfte auch dem Sozialamt und/oder dem Jobcenter bekannt sein.
Deshalb dürfte eine Aufhebung und Erstattung auch nur in Höhe des tatsächlich überzahlten Gesamtbetrages zulässig sein.
Also: da die Rente 1 : 1 leistungsmindernd angerechnet wird, erfolgte eine Überzahlung ab dem Zeitpunkt der Rentenerhöhung in Höhe des monatlichen Erhöhungsbetrages. Dieser Betrag wird dann zurückgefordert.
Grüße
Sönke Nippel
Rechtsanwalt