Das Widerspruchsverfahren ist kein gerichtliches Verfahren, sondern ein besonderes Verwaltungsverfahren, das sich an den Erlass eines Verwaltungsaktes anschließt. Das Widerspruchsverfahren wird durch einen Abhilfebescheid oder durch einen Widerspruchsbescheid abgeschlossen.
1. Anwendbare Regelungen
Wo ist das Widerspruchsverfahren geregelt?
Ist der Sozialrechtsweg gegeben, ist das Sozialgerichtsgesetz
§ 1 Unabhängige Verwaltungsgerichte
§ 2 Die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit
§ 3 …
(Link: Inhaltsübersicht SGG mit Links zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)Sozialgerichtsgesetz (SGG) anwendbar – ist der Verwaltungsrechtsweg einschlägig, ist die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) anzuwenden, § 62 SGB X
Für förmliche Rechtsbehelfe gegen Verwaltungsakte gelten, wenn der Sozialrechtsweg gegeben ist, das Sozialgerichtsgesetz, wenn …
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 62 SGB X.
Nachfolgend sollen nur die einschlägigen Vorschriften bei Anwendbarkeit des SGG aufgezeigt werden. Die Vorschriften des SGG entsprechen im Wesentlichen denen der VwGO.
2. Widerspruchsverfahren als Klagevoraussetzung
Wer durch den Erlass eines belastenden oder die Ablehnung eines beantragten begünstigenden Verwaltungsaktes in seinen Rechten verletzt wird, kann hiergegen Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage erheben, § 78 SGG Vorverfahren als Klagevoraussetzung
(1) Vor Erhebung der Anfechtungsklage sind Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit des Verwaltungsakts in einem Vorverfahren nachzuprüfen. Eines Vorverfahrens bedarf es nicht, wenn …
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 78 Abs. 1 S. 1 SGG. Voraussetzung für eine Klage ist die Durchführung eines Widerspruchs- bzw. Vorverfahrens, § 78 Abs. 1 und 3 SGG.
Die erfolglose Durchführung des Widerspruchsverfahrens ist Voraussetzung für den anschließenden Weg zum Sozialgericht. Es handelt sich um eine unverzichtbare Sachurteilsvoraussetzung.
3. Beginn des Widerspruchsverfahrens
Wann beginnt das Widerspruchsverfahren?
Das Widerspruchsverfahren beginnt mit der Erhebung des Widerspruchs gemäß § 83 SGG Widerspruch
Das Vorverfahren beginnt mit der Erhebung des Widerspruchs.
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 83 SGG.
Ohne Erhebung des Widerspruchs wird kein Vorverfahren durchgeführt.
4. Widerspruchsfrist
Welche Frist gilt für den Widerspruch?
Wie ist die Widerspruchsfrist zu berechnen?
Der Widerspruch ist bei der Ausgangsbehörde innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes einzulegen, § 84 Frist und Form des Widerspruchs
(1) Der Widerspruch ist binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist, schriftlich, …
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 84 Abs. 1 SGG.
Gemäß § 37 Bekanntgabe des Verwaltungsaktes
(2) Ein schriftlicher Verwaltungsakt, der im Inland durch die Post übermittelt wird, gilt am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. …
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 37 Abs. 2 S. 1 SGB X gilt der durch einfachen Brief bekannt gegebene Verwaltungsakt grundsätzlich als mit dem dritten Tage nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Bei Versendung des Bescheides mit einfachem Brief gilt der Bescheid am 3. Tag nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Endet die errechnete Monatsfrist an einem Samstag, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag, so verschiebt sich das Fristende auf den darauf folgenden Werktag.
Zur Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes vergleiche den Beitrag:
Der Widerspruch muss innerhalb der Monatsfrist in den Machtbereich der Behörde gelangen.
Bei einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung beträgt die Widerspruchsfrist ein Jahr, § 66 Rechtsbehelfsfrist
(1) …
(2) Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs nur innerhalb eines Jahres seit Zustellung, Eröffnung oder Verkündung zulässig, außer …
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 66 Abs. 2 SGG.
Zur fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung vergleiche den Beitrag:
Im Falle der Versäumung der Frist kann ggf. ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.
5. Form des Widerspruchs
In welcher Form muss der Widerspruch erhoben werden?
Der Widerspruch ist schriftlich oder zur Niederschrift einzureichen, § 84 Frist und Form des Widerspruchs
(1) Der Widerspruch ist binnen eines Monats, nachdem der Verwaltungsakt dem Beschwerten bekanntgegeben worden ist, schriftlich, …
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 84 Abs. 1 SGG.
Das Schriftformerfordernis verlangt, dass der Widerspruch unterschrieben sein muss. Die mündliche oder telefonische Einlegung genügt nicht.
6. Vertretung
Der Widerspruchsführer kann sich in jeder Lage des Verfahrens vertreten lassen, § 73 – Bevollmächtigte und Beistände
(1) Die Beteiligten können vor dem Sozialgericht und dem Landessozialgericht den Rechtsstreit selbst führen. …
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 73 Abs. 1 SGG.
Hat sich ein Bevollmächtigter für den Beteiligten im Widerspruchsverfahren bestellt, so muss sich die Behörde an diesen wenden, § 13 Bevollmächtigte und Beistände
(3) Ist für das Verfahren ein Bevollmächtigter bestellt, muss sich die Behörde an ihn wenden. Sie kann sich an den Beteiligten selbst wenden, …
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 13 Abs. 1 SGB X. Sie kann sich an den Beteiligten selbst wenden, soweit er zur Mitwirkung verpflichtet ist, § 13 Abs. 3 S. 2 SGB X.
7. Akteneinsicht
Das allgemeine Recht auf Akteneinsicht gilt im Widerspruchsverfahren nicht, § 84 a – Akteneinsicht
Für das Vorverfahren gilt § 25 Abs. 4 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch nicht.
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 84 a SGG.
§ 84 a SGG erlaubt es der Verwaltung, die Akte zur Akteneinsicht an die Rechtsanwälte zu versenden. Ein Anspruch auf Versendung besteht aber nicht.
8. Ablauf des Widerspruchsverfahrens
Zunächst prüft die Ausgangsbehörde den angegriffenen Bescheid auf seine Rechtmäßigkeit.
Wird der Widerspruch für begründet erachtet, so ist ihm abzuhelfen, § 85 – Abhilfe oder Widerspruchsbescheid
(1) Wird der Widerspruch für begründet erachtet, so ist ihm abzuhelfen.
(2) …
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 85 Abs. 1 SGG.
Hilft die ursprünglich zuständige Behörde dem Widerspruch nicht ab, so legt sie den Widerspruch der Widerspruchsbehörde zur Entscheidung vor, § 85 – Abhilfe oder Widerspruchsbescheid
(1) …
(2) Wird dem Widerspruch nicht abgeholfen, so erlässt den Widerspruchsbescheid
1. die nächsthöhere Behörde …
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 85 Abs. 2 SGG.
Wer zuständige Widerspruchsbehörde ist, richtet sich nach § 85 Abs. 2 SGG:
- Nach Nr. 1 entscheidet die nächsthöhere Behörde oder, wenn diese eine oberste Bundes- oder Landesbehörde ist, die Ausgangsbehörde.
- Nach Nr. 2 entscheidet in Angelegenheiten der Sozialversicherung die von der Vertreterversammlung in der Satzung bestimmte Stelle.
- Nach Nr. 3 entscheidet in Angelegenheiten der Bundesagentur für Arbeit mit Ausnahme der Angelegenheiten nach dem SGB II die von dem Vorstand bestimmte Stelle.
- Nach Nr. 4 entscheidet in Angelegenheiten der kommunalen Selbstverwaltung die Selbstverwaltungsbehörde, soweit nichts anderes bestimmt ist.
- Für die Angelegenheiten der Grundsicherung modifiziert Abs. 2 S. 2 die Grundregel des Satzes 1 Nr. 1 dahingehend, dass die Ausgangsbehörde selbst über den Widerspruch entscheidet.
Das Verfahren wird durch den Erlass eines Widerspruchsbescheides bzw. eines Abhilfebescheides beendet. Der Widerspruchsbescheid ist schriftlich zu erlassen, zu begründen und bekannt zu geben, § 85 – Abhilfe oder Widerspruchsbescheid
…
(3) Der Widerspruchsbescheid ist schriftlich zu erlassen, zu begründen und den Beteiligten bekanntzugeben. …
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 85 Abs. 3 S. 1 SGG. Durch das Schriftformerfordernis soll sichergestellt werden, dass die wiedergegebene Entscheidung tatsächlich der Beschlussfassung entspricht und dafür im Wesentlichen die mitgeteilten Gründe maßgeblich sind.
9. Wirkung des Widerspruchs
Der Widerspruch entfaltet in der Regel aufschiebende Wirkung, d. h. der Widerspruch verhindert die Vollstreckung des Verwaltungsaktes, § 86 a aufschiebende Wirkung
(1) Widerspruch und Anfechtungsklage haben aufschiebende Wirkung. Das gilt auch bei …
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 86 a SGG.
Zur aufschiebenden Wirkung eines Widerspruchs oder der Klage vergleiche auch die Beiträge
- Wirkung des Widerspruchs und der Klage gegen einen Änderungsbescheid
Widerspruch und Anfechtungsklage haben zwar auch im Sozialrecht aufschiebende Wirkung, § 86 a Abs. 1 S. 1 SGG. … | mehr
- Aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen einen Erstattungsbescheid
Auch der Widerspruch gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Jobcenters hat gemäß § 86 a SGG aufschiebende Wirkung, … | mehr
10. Kosten des Widerspruchsverfahrens
Was kostet das Widerspruchsverfahren?
Für die Durchführung des Vorverfahrens werden seitens der Behörde in der Regel keine Kosten erhoben.
Die Rechtsanwaltskosten für das Widerspruchsverfahren werden nach dem RVG in Höhe einer Geschäftsgebühr zuzüglich Auslagen und Umsatzsteuer berechnet. Bei einem erfolgreichen Widerspruch muss die Behörde die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen in der Regel tragen, § 63 Erstattung von Kosten im Vorverfahren
(1) Soweit der Widerspruch erfolgreich ist, hat der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen zu erstatten. …
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 63 Abs. 1 S. 1 SGB X.
Zur Berechnung der Rechtsanwaltskosten, die für die Durchführung des Vorverfahrens anfallen, vergleiche u. a. die Beiträge
- Rechtsanwaltsgebühren im Sozialrecht
In sozialrechtlichen Angelegenheiten entstehen bei Beauftragung eines Rechtsanwaltes in der Regel Betragsrahmengebühren …
| mehr - Zur Höhe der Geschäftsgebühr für Widerspruchsverfahren …
Das Bayerische Landessozialgericht sieht bei der Bestimmung einer Rahmengebühr eine Geschäftsgebühr in Höhe von 80,00 € … | mehr
11. Dauer und Bestand der Widerspruchsverfahren
Wie lange dauern Widerspruchsverfahren?
Wie viele Widerspruchsverfahren werden geführt?
Auf die Frage nach der Dauer der Widerspruchsverfahren enthält § 88 – Untätigkeitsklage
(2) Das gleiche gilt, wenn über einen Widerspruch nicht entschieden worden ist, mit der Maßgabe, dass als angemessene Frist eine solche von drei Monaten gilt.
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 88 Abs. 2 SGG eine Antwort. Innerhalb von drei Monaten muss die Widerspruchsbehörde entscheiden. Ansonsten droht eine Untätigkeitsklage.
Statistische Daten zur Zahl der Widerspruchsverfahren sind insbesondere zu den Verfahren bei den Jobcentern, der Agentur für Arbeit und den Versorgungsämtern erhältlich:
Zu statistischen Daten u. a. zur Dauer und zum Bestand von Widerspruchs- und Klageverfahren vergleiche die Beiträge
- Hartz 4 – statistische Daten und Fakten
I. Leistungsberechtigte … II. Bedarfsgemeinschaften … III. Zahlungsansprüche … IV. Widerspruchsverfahren … V. Klageverfahren … VI. Verfahrensdauer …| mehr
- Statistiken zum Schwerbehindertenrecht und zum Verfahren
I. allgemeine Daten zur Schwerbehinderung … II. Daten zum Verwaltungsverfahren … III. Widerspruchsverfahren … IV. Klageverfahren … | mehr
Helge Smelders says
Sehr geehrter Herr Nippel,
vielen Dank für Ihre Ausführungen zum Widerspruch im Sozialverfahren! Mich würde noch interessieren, ob ein Widerspruch im Sozialrecht gegebenenfalls auch verschlimmernde Wirkung haben kann – ob also die prüfende Stelle entscheiden kann, dass der Ursprungsbescheid (gegen den Widerspruch eingelegt wurde) zu Ungunsten des Widerspruchführenden abgeändert wird?
Mit freundlichen Grüßen
Helge Smelders