Offen spricht das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen einen Dissens zwischen der von dem Landessozialgericht und dem Bundessozialgericht vertretenen Auffassung zur Sozialhilfe für Unionsbürger an und versagt bulgarischen Unionsbürgern Leistungen nach dem SGB II und dem SGB XII. Während das Bundessozialgericht EU-Ausländern mit einem verfestigten Aufenthaltsrecht Sozialhilfe (Leistungen zur Hilfe zum Lebensunterhalt) zuspricht, lehnt das www.justiz.nrw.deLSG mit einem Beschluss vom 7. März 2016 (L 12 SO 79/16) Hilfen ausdrücklich ab:
… Die Antragsteller zu 1) bis 4) sind als Erwerbsfähige bzw. als Angehörige dem Grunde nach dem SGB II Leistungsberechtigte (dazu unter a)) und damit gemäß § 21 Sonderregelung für Leistungsberechtigte nach dem Zweiten Buch
Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach …
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 21 S. 1 SGB XII vom Bezug von Leistungen nach dem SGB XII ausgeschlossen. Dieses von der Sichtweise des BSG in seinen Urteilen vom 03.12.2015 (B 4 AS 59/13 R, B 4 AS 43/15 R, B 4 AS 44/15 R), vom 16.12.2015 (B 4 AS 15/14 R, B 14 AS 18/14 R, B 14 AS 33/14 R) und vom 20.01.2016 (B 14 AS 15/15 R, B 14 AS 35/15 R) abweichende Ergebnis folgt aus dem Wortlaut und dem Aufbau des § 21 SGB XII, der Gesetzesbegründung, dem vom BSG in weiteren Urteilen aufgezeigten systematischen Wechselspiel von SGB II und SGB XII und der in diesem Zusammenhang angenommenen abgrenzenden Funktion des § 21 Sonderregelung für Leistungsberechtigte nach dem Zweiten Buch
Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach …
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 21 SGB XII sowie der in § 7 SGB II vertretenen Leistungsausschlüsse (dazu unter b)).
Demgegenüber hatte das Bundessozialgericht in den vom Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen angesprochenen Entscheidungen – insbesondere in dem www.sozialgerichtsbarkeit.deUrteil vom 3. Dezember 2015 zum Aktenzeichen B 4 AS 44/15 – ausdrücklich ausgeführt, dass nicht freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger (zumindest im Einzelfall) Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem SGB XII erhalten können:
- Ein materiell nicht freizügigkeitsberechtigter Unionsbürger ist in entsprechender Anwendung des Leistungsausschlusses für Arbeitsuchende von Leistungen des SGB II ausgeschlossen.
- Materiell nicht freizügigkeitsberechtigte Unionsbürger können im Einzelfall Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Recht der Sozialhilfe als Ermessensleistung beanspruchen; das Ermessen des Sozialhilfeträgers ist im Regelfall bei einem verfestigten Aufenthalt nach mindestens sechs Monaten auf Null reduziert.
Wie lassen sich die entgegenstehenden Auffassungen erklären?
Das BSG löst die Frage nach der Vereinbarkeit des Leistungsausschlusses von existenzsichernden Leistungen nach einem „Voraufenthalt“ von 6 Monaten über die Ermessensregel des § 23 Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer
(1) Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, ist Hilfe zum Lebensunterhalt, …
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII. Das Ermessen des Sozialhilfeträgers sei dann sogar auf Null reduziert. Dem stehe auch § 21 S. 1 SGB XII nicht entgegen. § 21 S. 1 SGB II sieht einen Ausschluss der Leistungen nach dem SGB XII nur vor, wenn Erwerbsfähige „dem Grunde nach leistungsberechtigt sind“, § 21 Sonderregelung für Leistungsberechtigte nach dem Zweiten Buch
Personen, die nach dem Zweiten Buch als Erwerbsfähige oder als Angehörige dem Grunde nach …
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 21 S. 1 SGB XII. Dem „Grunde nach leistungsberechtigt“ sind aber diejenigen nicht, die gemäß § 7 SGB II von den Leistungen nach § 7 SGB II ausgeschlossen sind.
Das LSG führt demgegenüber ausdrücklich aus, „die Auslegung des BSG von § 23 SGB XII als von § 21 S. 1 SGB XII stehe dem in den gesetzgeberischen Motiven zum Ausdruck kommenden eindeutigen Willen des Gesetzgebers entgegen“ (s. o. LSG, Rdnr. 34, zu cc). Es sei „nicht nachzuvollziehen, wie das BSG in Anwendung des § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII als Anspruchsgrundlage zu einer Ermessensreduzierung auf Null und damit in der Regel zu einem gebundenen Leistungsanspruch“ komme (s. o. LSG, Rdnr. 35, zu ee).
Wie lassen sich momentan Fälle lösen?
Hier sind Fälle bekannt, in denen die zuständigen Behörden Hilfen versagen bzw. mit Hinweis auf die Entscheidung des LSG Leistungen einstellen.
Es bleibt abzuwarten, ob und wie das Bundessozialgericht gegenüber derartigen Aussagen des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen Stellung nehmen wird. Vorsorglich sollten meines Erachtens Ablehnungsbescheide der Sozialleistungsträger angegriffen werden. Für Hinweis zum Thema auch aus anderen Bundesländern wäre der Verfasser ggf. dankbar.
p. s.: Das LSG Rheinland-Pfalz hatte bereits vor dem LSG Nordrhein-Westfalen in einem www.sozialgerichtsbarkeit.deBeschluss vom 11. Februar 2016 (L 3 AS 668/15 B ER) einen Leistungsausschluss von erwerbsfähigen Unionsbürgern nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. SGB II auch auf den Leistungsanspruch nach dem SGB XII erstreckt und ebenfalls festgestellt, dass Leistungen gemäß § 23 Abs. 1 S. 3 SGB XII allenfalls in eng begrenzten Ausnahmefällen in Betracht kommen (s. LSG Rheinland-Pfalz, zu II. 3.).
p.p.s.: Das SG Mainz hat mit einer Entscheidung vom 18. April 2016 ein Verfahren ausgesetzt und dem Bundesverfassungsgericht folgende Fragen zur Entscheidung vorgelegt (vgl. www.landesrecht.rlp.deBeschluss zum Aktenzeichen S 3 AS 149/16, Fragen zu a) und b):
a) Ist § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 Zweites Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857) mit Art. 1 Abs. 1 Grundgesetz (GG) i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?
b) Ist § 7 Abs. 5 SGB II in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.05.2011 (BGBI. Teil I Nr. 23, S. 857), zuletzt geändert mit Wirkung zum 01.04.2012 durch Gesetz vom 20.12.2011 (BGBl. Teil I Nr. 69, S. 2917), mit Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG – Sozialstaatlichkeit – und dem sich daraus ergebenden Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar?
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