Er ist verschuldensunabhängig und zielt auf Naturalrestitution: Betroffene sind so zu stellen, als hätte die Behörde rechtmäßig gehandelt.
1. Überblick & Zweck
Der sozialrechtliche Herstellungsanspruch ist ein von der Rechtsprechung entwickelter Ausgleichsmechanismus: Er korrigiert sozialrechtliche Nachteile, die auf einer objektiven Pflichtverletzung eines Sozialleistungsträgers beruhen (z. B. fehlerhafte Beratung/Auskunft entgegen § 14 SGB I / § 15 SGB I). Anders als bei der Amtshaftung ist kein Verschulden erforderlich.
2. Voraussetzungen (Checkliste)
Vollcheck nach ständiger Rechtsprechung (auszugsweise):
- Pflicht des Leistungsträgers aus Gesetz oder Sozialrechtsverhältnis (insb. Beratungs-/Auskunftspflicht nach § 14 SGB I, § 15 SGB I).
- Objektive Pflichtverletzung (fehlerhafte/unterlassene Beratung, Auskunft oder Betreuung).
- Kausalität zwischen Pflichtverstoß und Nachteil des Betroffenen.
- Zulässige Amtshandlung möglich, die den Nachteil beseitigt (Naturalrestitution).
- Kein Widerspruch zum Gesetzeszweck durch die Korrektur.
3. Abgrenzung zu anderen Ansprüchen
- Folgenbeseitigungsanspruch (öffentlich-rechtlich): zielt auf Beseitigung fortwirkender rechtswidriger Folgen eines hoheitlichen Eingriffs; der Herstellungsanspruch greift weiter und ist auf sozialrechtliche Naturalrestitution gerichtet.
- Amtshaftung, § 839 BGB: setzt Verschulden voraus und führt zu Schadensersatz in Geld. Der Herstellungsanspruch ist verschuldensunabhängig und zielt primär auf eine rechtmäßige Amtshandlung (Nachholung/Korrektur).
Vertiefend zur Abgrenzung Amtshaftung:
4. Rechtsfolgen & Grenzen
Der Betroffene ist so zu stellen, als hätte die Behörde rechtmäßig gehandelt (z. B. nachträgliche Bewilligung, fingierte rechtzeitige Antragstellung, Berücksichtigung eines Anspruchs).
Für rückwirkende Leistungsnachholung gilt nach der Rechtsprechung regelmäßig die Vierjahresgrenze in entsprechender Anwendung von § 44 Abs. 4 SGB X.
5. Beispiele aus der Rechtsprechung
Nachholung trotz verspäteter Antragstellung: Wurde eine Hinweispflicht verletzt (z. B. Rentenversicherung nach § 14 SGB I / spezialgesetzlicher Hinweisnorm), kann die Leistung rückwirkend gewährt werden; nach st. Rspr. meist begrenzt auf 4 Jahre (analoge Anwendung § 44 Abs. 4 SGB X).
- BSG, 27.03.2007 – B 13 R 58/06 R: Rückwirkende Bewilligung bei pflichtwidrig unterlassenem Hinweis; analoge Vierjahresgrenze.
- BSG, 18.01.2011 – B 4 AS 29/10 R: Systematik der Voraussetzungen (Pflicht, Pflichtverletzung, Kausalität, rechtmäßige Korrektur, Gesetzeszweck).
Weitere Beispiele aus der Rechtsprechung:
6. Praxis: Vorgehen & Beweissicherung
- Beratungs-/Kontaktverlauf dokumentieren: Gesprächsnotizen (Datum, Inhalt, Ansprechpartner), E-Mails, Schreiben, Merkblätter.
- Kausalität darlegen: Was hätte die richtige Beratung/Auskunft bewirkt (z. B. rechtzeitige Antragstellung, andere Wahlrechte)?
- Konkrete Naturalrestitution beantragen: Welche Amtshandlung ist nachzuholen/zu korrigieren?
- Fristen im Blick: Vierjahresgrenze (analog § 44 Abs. 4 SGB X); daneben ggf. Widerspruchs-/Klagefristen.
Greift der Herstellungsanspruch nicht oder ist der Schaden nicht durch rechtmäßige Amtshandlung ausgleichsfähig, kommt ergänzend eine Amtshaftung nach § 839 BGB in Betracht (verschuldensabhängig, Geldersatz).
7. Häufige Fragen
Brauche ich für den Herstellungsanspruch einen Verschuldensnachweis?
Nein. Es genügt eine objektive Pflichtverletzung (z. B. fehlerhafte Beratung/Auskunft) und deren Kausalität für den eingetretenen Nachteil.
Erhalte ich Geldersatz wie bei der Amtshaftung?
Regelmäßig nein. Der Herstellungsanspruch ist auf Naturalrestitution gerichtet (rechtmäßige Amtshandlung nachholen). Geldersatz kommt eher bei Amtshaftung nach § 839 BGB in Betracht.
Wie weit zurück kann korrigiert werden?
Nach Rspr. meist bis zu 4 Jahre rückwirkend (analoge Anwendung von § 44 Abs. 4 SGB X).
Gilt der Anspruch auch ohne ausdrückliche Nachfrage beim Amt?
Entscheidend ist, ob eine Pflicht zur richtigen Beratung/Auskunft bestand und objektiv verletzt wurde. Einzelfallprüfung ist erforderlich.
8. Weiterführende Beiträge & Rechtsgrundlagen
Weiterführend zu Rechtsprechung, Amtshaftung und Mitwirkung:



Pseudomym says
Mir widerfährt gerade eine Situation, die genau zu den Ausführungen oben aasst.
ArGe hat nicht beraten, bzw. Auskünfte nicht erteilt selbstständiger Kunde hat sich die Infos langwierig selbst geholt bzw. holen müssen und nun entstehen durch die Langwierigkeit und die verkorkste Berechnung uber 2 Bewilligungszeiträume, so schwere Nachteile, dass der Kunde die Selbstständigkeit vermutlich demnächst aufgeben muss.
Das ganze liegt zwar seit Wochen beim SG Stuttgart, das aber lässt sich nun auch über den nächsten Berechnungszeitraum Zeit. Somit zeigt sich einmal mehr dass Recht haben und (Un)Recht bekommen oft nur eine Frage der Zeit ist.
W. Bauer says
Im Okt. 2008 wurde mein Rentenantrag von dem Versichertenberater der Deutschen Rentenversicherung Bayern Süd ausgefüllt. Im Jahr 2018 wurde ich von der TK-Krankenversicherung darauf aufmerksam gemacht, dass meine Kinder bei der Spalte Pflegeversicherung nicht eingetragen sind deshalb seit 10 Jahren ein erhöhter Pflegebeitrag einbehalten wurde.
Nach Akteneinsicht ergibt sich zwar, dass im Antrag die Frage nach Kindern verneint wurde. Dies entspricht jedoch nicht meinen Angaben. Diese Frage wurde durch den Versichertenberater falsch angekreuzt. Der Antrag wurde von mir im Vertrauen auf die korrekten Angaben unterschrieben.
Jan says
Sehr geehrte Frau Nippel,
wegen einem Arbeitsunfall (1988 während der Berufsausbildung in der DDR) erhalte ich seit meiner Ausreise in die BRD (13.01.90) eine Unfallrente. Am 7.09.2021 stellte ich einen Antrag auf Überprüfung des Jahresarbeitsverdienstes. Wie sich voraussichtlich herausstellen wird, wurde der JAV falsch ermittelt. Es wurde eine fasche Tarifgruppe zu Grunde gelegt,(Gleichstellung durch Einigungsvertrag 37 wurde nicht berücksichtigt), Zulagen für 3 schichtige Vollkontiarbeit nicht berücksichtigt und die Anpassung des JAV wegen 573 RVO und 90 SGB VII nicht berücksichtigt.
Beantrage ich nun die sozialrechtliche Widerherrstellung zum Zeitpunkt des ersten Bescheides und wirkt er dann auch zu diesem Zeitpunkt? Oder bekomme ich maximal 4 Jahre vor meinem Antragsjahr auf Überprüfung des JAV Leistungen nachgezahlt. Muss ich dann gleichzeitig auf Schadenersatz wegen Amtspflichtverletzung klagen?
Für eine kurze Antwort wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Freundlicher Gruß
Jan
Rechtsanwalt S. Nippel says
Hallo Jan,
hier sprechen Sie eine für mich recht unüberschaubare Problematik der vierjährigen Verjährung an. Deshalb schreiben ich einfach nur einige „Gedankenfragmente“ auf. Insgesamt sind die Fragestellungen zu komplex, um hier „auf die Schnelle“ behandelt werden zu können:
Wenn ein Berechtigter Anspruch auf rückwirkende Leistungen aufgrund eines sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs hat, werden diese längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren rückwirkend erbracht. Die Vorschrift des § 44 Abs 4 SGB X ist insoweit entsprechend anzuwenden …
… die Einrede der Verjährung könnte ggf. durch die Rentenversicherung erhoben werden (dies könnte allerdings rechtsmissbräuchlich sein) …
Ob darüber hinaus auch eine Amtspflichtverletzung gemäß § 839 BGB vorliegt, müsste ggf. gesondert geprüft werden … zu beachten ist allerdings, dass der sozialrechtliche Herstellungsanspruch setzt kein Verschulden des Sozialleistungsträgers voraussetzt …
… auch bei einem Amtshaftungsanspruch müssen Sie ggf. Fragen der Verjährung beachten (evtl. drei Jahre ab Kenntnis …).
Grüße
Sönke Nippel
Rechtsanwalt