§ 39 Vermutung der Bedarfsdeckung
Lebt eine nachfragende Person gemeinsam mit anderen Personen in einer Wohnung oder in einer entsprechenden anderen Unterkunft, so wird vermutet, dass sie gemeinsam wirtschaften (Haushaltsgemeinschaft) und dass die nachfragende Person von den anderen Personen Leistungen zum Lebensunterhalt erhält, soweit …
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 39 SGB XII bezieht – anders als die Regelung in § 9 Hilfebedürftigkeit
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(5) Leben Hilfebedürftige in Haushaltsgemeinschaft mit Verwandten oder Verschwägerten, so wird vermutet, dass sie von ihnen Leistungen erhalten, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann.
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 9 Abs. 5 SGB II – nicht nur verwandte oder verschwägerte Personen, sondern auch Mitglieder einer reinen Zweck-Wohngemeinschaft sowie auch Lebensgemeinschaften in die Berechnung der Leistungen des Hilfesuchenden ein.
I. Konsequenzen des Gesetzes zur Entlastung unterhaltspflichtiger Angehöriger
Mit dem Angehörigen-Entlastungsgesetz werden unterhaltsverpflichtete Eltern und Kinder von Menschen zukünftig entlastet, die Leistungen der Hilfe zur Pflege oder andere Leistungen der Sozialhilfe erhalten: Auf ihr Einkommen wird zukünftig erst ab einem Jahresbetrag von mehr als 100.000 Euro zurückgegriffen.
Konkret werden mit dem Gesetz Kinder von pflegebedürftigen Eltern und Eltern von Kindern mit einer Behinderung entlastet. Die Regelungen des Angehörigen-Entlastungsgesetzes gelten für die Unterhaltspflichten zwischen Eltern und Kindern. Die Unterhaltspflichten werden wiederum bei der Berechnung der Leistungen berücksichtigt. § 94 Übergang von Ansprüchen gegen einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen
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(1a) Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten gegenüber ihren Kindern und Eltern sind nicht zu berücksichtigen, es sei denn, deren jährliches Gesamteinkommen im Sinne des § 16 des Vierten Buches beträgt jeweils mehr als 100 000 Euro (Jahreseinkommensgrenze). …
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 94 Abs. 1 a SGB XII formuliert dies zumindest im Hinblick auf den Regress des Sozialhilfeträgers gegenüber Kindern ausdrücklich aus.
Was gilt heute nach Inkrafttreten des Angehörigen-Entlastungsgesetzes für die Berücksichtigung des Einkommens eines Kindes?
Gilt heute schon eine 100.000 Euro-Grenze für die Berechnungen, wenn Eltern mit ihren gut verdienenden Kindern in einer Haushaltsgemeinschaft leben?
Gilt die 100.000 Euro-Grenze auch für andere Angehörige?
Was gilt für Dritte in einer Zweck-Wohngemeinschaft?
Was gilt für Stiefeltern?
Welche Regelungen gelten für eine Lebensgemeinschaft?
Bisher finde ich in Kommentierungen zum SGB XII nur Antworten, die beinhalten, dass nahe Angehörige mehr leisten sollen als entferntere Angehörige. Dritte sollen weniger leisten als Angehörige (anderes soll nur für „nahe Verschwägerte“ oder Stiefeltern und wohl auch für Lebensgemeinschaften gelten).
Eine Kommentierung von Conradis (Lehr- und Praxiskommentar zu § 39 Rdnr. 14; 12. Auflage 2020) lautet (für die Zeit ab dem 1. Januar 2020):
Es sind mithin folgende Unterscheidungen im Hinblick auf die Freibeträge der Mitbewohner zu machen, wobei die anteiligen Unterkunftskosten enthalten sind:
- Bei nahen Verschwägerten, insbesondere Stiefeltern gegenüber minderjährigen Kindern, ist eine Anlehnung an die Regelung der ALG II-V gerechtfertigt. Bei Unterkunftskosten von anteilig zum Beispiel 200 € ergibt sich ein Freibetrag von ca. 1060 €; … . …
- Bei Verwandten in der Haushaltsgemeinschaft, die grundsätzlich unterhaltspflichtig sind – vor allem Eltern und volljährige Kinder – sind Selbstbehaltsbeträge nach dem Unterhaltsrecht zugrunde zu legen, die sich aus der Düsseldorfer Tabelle ergeben, also (seit 1.1.2020) bei Eltern gegenüber Kindern 1.400 € und bei Kindern gegenüber Eltern 2.000 €.
- Bei nicht unterhaltspflichtigen Verwandten, zum Beispiel Geschwistern oder entfernten Verschwägerten ist der Freibetrag um 50 % auf etwa 2.100 € bis 3.000 € zu erhöhen, …
- Ein noch höherer Freibetrag ist bei sonstigen Mitbewohnern zu berücksichtigen. Nur bei sehr guten Einkommensverhältnissen kann eine Leistung an den Hilfesuchenden erwartet werden. In der Regel muss daher ein 100 % erhöhter Freibetrag anerkannt werden, mithin zwischen 3000 und 4000 €.
Diese Kommentierung aus dem Jahr 2020 kann aber noch nicht die Änderungen in der Unterhaltspflicht gemäß der Düsseldorfer Tabelle zu D. I. (Seite 5) für das Jahr 2021 berücksichtigen:
…
D. Verwandtenunterhalt und Unterhalt nach § 1615 I BGB
I. Angemessener Selbstbehalt gegenüber den Eltern:
Dem Unterhaltspflichtigen ist der angemessene Eigenbedarf zu belassen.
Bei dessen Bemessung sind Zweck und Rechtsgedanken des Gesetzes zur Entlastung unterhaltspflichtiger Angehöriger in der Sozialhilfe und in der Eingliederungshilfe (Angehörigen-Entlastungsgesetz) vom 10.Dezember 2019 (BGBl I S. 2135) zu beachten.
II. …
Während 2020 noch der Freibetrag für das Kind gegenber den Eltern in Höhe von 2.000 Euro gemäß D. I. gemäß der obigen Kommentierung galt (vgl. Düsseldorfer Tabelle 2020), sollen heute gemäß der Düsseldorfer Tabelle 2021 „die Rechtsgedanken des Gesetzes zur Entlastung unterhaltspflichtiger Angehöriger in der Sozialhilfe und in der Eingliederungshilfe“ Anwendung finden. Damit dürfte sich § 39 SGB XII weitgehend erledigt haben, wenn die obige Kommentierung zu § 39 SGB XII zutrifft. Das Kind dürfte ab dem 1. Januar 2021 gemäß der neuen Düsseldorfer Tabelle bei Anwendung der Gedanken des Angehörigen-Entlastungsgesetzes erst ab einem Jahreseinkommen von 100.000 Euro eintrittspflichtig werden. Dies dürfte dann für weiter entfernt liegende Angehörige und für Dritte „erst recht“ gelten. Hier liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass die Ausführungen fehlerhaft sind. Praxiserfahrungen liegen hier noch nicht vor.
Was allerdings im Hinblick auf die Bedarfsdeckungsvermutung durch Stiefeltern (Stiefeltern gegenüber minderjährigen Kindern und auch „nahen Verschwägerten(?)“) sowie auch Lebensgemeinschaften gilt oder gelten soll – dazu vermag ich keine belastbaren Antworten zu finden. Ob hier ebenfalls – wie oben in der zitierten Kommentierung von Conradis – ein Rückgriff in Anlehnung an die ALG II-V gerechtfertigt ist, erschließt sich bei einer ersten Prüfung noch nicht. Ein solcher Lösungsversuch könnte sich aber als unzlässiger „Zirkelschluss“ verbieten. Bei der Anwendung der ALG II-V ergeben sich ähnliche Problemstellungen wie beim SGB XII selbst. Ob im Ergebnis nur noch eine „Haushaltsersparnis“ leistungsmindernd angerechnet werden soll, ob es bei den bisherigen Berechnungen bleiben soll oder ob auch gar keine Anrechnung von Einkommen mehr stattfinden soll, muss die Zukunft noch erweisen. Dass überhaupt keine Anrechnung mehr stattfinden soll, düfte aufgrund einer dann vorliegenden Schlechterstellung von Lebensgemeinschaften mit Trauschein allerdins unwahrscheinlich sein.
Für Hinweise bin ich jeweils dankbar.
II. Kritik des Deutschen Vereins von 2019
Der Deutsche Verein führt in seiner Empfehlung vom 11. September 2019 auf Seite 10 f. (DV 22/19) – also schon vor Inkrafttreten des Angehörigen-Entlastungsgesetzes – im Hinblick auf die damalige Regelung des § 43 Einsatz von Einkommen und Vermögen, Berücksichtigung von Unterhaltsansprüchen
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(5) Unterhaltsansprüche der Leistungsberechtigten gegenüber ihren Kindern und Eltern sind nicht zu berücksichtigen, es sei denn, deren jährliches Gesamteinkommen im Sinne des § 16 des Vierten Buches beträgt jeweils mehr als 100 000 Euro (Jahreseinkommensgrenze). …
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 43 Abs. 5 SGB XII alter Fassung aus:
Problemdarstellung:
Leben Leistungsberechtigte der Hilfe zum Lebensunterhalt gemeinsam mit anderen Personen in einer Wohnung oder in einer entsprechenden anderen Unterkunft, wird nach § 39 SGB XII vermutet, dass sie gemeinsam wirtschaften (Haushaltsgemeinschaft) und dass die nachfragende Person von den anderen Personen Leistungen zum Lebensunterhalt erhält, soweit dies nach deren Einkommen und Vermögen erwartet werden kann. Diese gesetzliche Vermutung einer Bedarfsdeckung im SGB XII bezieht – anders als die Regelung in § 9 Abs. 5 SGB II – nicht nur verwandte oder verschwägerte Personen ein, sondern auch Mitglieder einer reinen Zweck-Wohngemeinschaft. Die Bildung von (außerfamiliären) Wohngemeinschaften sowie Untervermietungen, insbesondere in Ballungsgebieten, ist inzwischen auch im Alter nicht unüblich. Ein Grund, warum die Bedarfsdeckung im SGB XII, anders als im SGB II, auch beim Zusammenleben von Menschen mit einer reinen Zweckverbindung vermutet wird, ist nicht ersichtlich und insoweit nicht gerechtfertigt. Darüber hinaus ist im Gegensatz hierzu im Vierten Kapitel mit § 43 Abs. 5 SGB XII für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung eine Regelung getroffen worden, nach welcher auf die Heranziehung des Unterhalts von Unterhaltspflichtigen für ihre Angehörigen im Leistungsbezug verzichtet wird, sofern deren jährliches Gesamteinkommen im Sinne des § 16 SGB IV „unter 100.000 € liegt“. Kraft Gesetzes wird hier vermutet, dass diese Grenze nicht erreicht ist. Gründe für die Benachteiligung durch die bis jetzt fehlende Privilegierung für die Hilfe zum Lebensunterhalt (Drittes Kapitel) einerseits und die durch § 39 SGB XII geregelte weitergehende Inanspruchnahme von Personen, die mit den Personen im Leistungsbezug lediglich durch eine reine Zweck-Wohngemeinschaft verbunden sind, andererseits, sind nicht ersichtlich. Vielmehr bestehen starke Bedenken im Hinblick auf den Grundsatz der Gleichbehandlung (vgl. Ausführungen zu § 43 Abs. 5 SGB XII).
Lösungsvorschlag:
Der Deutsche Verein empfiehlt, die Regelung der Vermutung über die Bedarfsdeckung im SGB XII gemäß § 39 SGB XII zu streichen.
Dem Lösungsvorschlag des Deutschen Vereins kann ich nur zustimmen. Nicht ganz deutlich wird für mich, ob sich die Ausführungen nur auf die Zweckgemeinschaften oder auch auf Angehörige beziehen. Ich gehe allerdings davon aus, dass sich die Auführungen des Deutschen Vereins auf beide Fallkonstellationen beziehen. § 39 SGB XII soll insgesamt gestrichen werden.
Allerdings wurde § 39 SGB XII bisher noch nicht gestrichen. Die Vorschrift gilt also weiter.
Beim Bürgergeld bzw. im SGB II ist § 1 Abs. 2 Bürgergeld-V anwendbar. Vgl. dazu den folgenden Beitrag:
Jimmy says
Hallo guten Tag,
ein Ehepaar (mit Eigenheim) überlegt eine gute Bekannte in die Familie aufzunehmen, die bisher von Grundsicherung SGB XII in eigener Wohnung lebte. Die Bekannte ist älter und kam überraschend ins Krankenhaus und kann aktuell nicht mehr alleine zurück nach Hause. Sie hat im Krankenhaus einen Pflegegrad bekommen.
Verstehe ich § 39 richtig, dass in einem solchen Fall „Zusammenleben mit Mensch mit PG“ keine Vermutung der Bedarfsdeckung besteht? Das Ehepaar will nicht für die Bekannte aufkommen, will auch nicht alles beim Sozialamt „offen legen“, die Pflege übernähme ein Pflegedienst. Ein Untermietvertrag mit geringer Miete für ein Zimmer soll die Unterkunftskosten regeln. Als Alternative bleibt nur ein Pflegeheim.
Viele Grüße J.G.
Georg says
Guten Morgen Herr Rechtsanwalt Nippel,
meine Eltern beziehen beide Grundsicherung im Alter und wohnen zur Miete. Außerdem ist meine Mutter pflegebedürftig (Pflegegrad 4).
Mein Vater pflegt meine Mutter und erhält dafür zusätzlich 765 Euro im Monat von der Pflegekasse. Ich habe meinen Eltern angeboten, wieder zu ihnen in die Wohnung zu ziehen, um meinen Vater besser bei der Pflege unterstützen zu können. Kommt hier das Angehörigen-Entlastungsgesetz auch zur Anwendung oder müssen meine Eltern mit Abzügen bei ihrer Grundsicherung rechnen?
Mein Jahreseinkommen liegt weit unter 100.000 Euro.