§ 66 SGB I – Folgen fehlender Mitwirkung
- (1) Kommt derjenige, der eine Sozialleistung beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 60 bis 62, 65 nicht nach und wird hierdurch die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert, kann der Leistungsträger ohne weitere Ermittlungen die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen, soweit die Voraussetzungen der Leistung nicht nachgewiesen sind. Dies gilt entsprechend, wenn der Antragsteller oder Leistungsberechtigte in anderer Weise absichtlich die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert.
- (2) Kommt derjenige, der eine Sozialleistung wegen Pflegebedürftigkeit, wegen Arbeitsunfähigkeit, wegen Gefährdung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit, anerkannten Schädigungsfolgen oder wegen Arbeitslosigkeit beantragt oder erhält, seinen Mitwirkungspflichten nach den §§ 62 bis 65 nicht nach und ist unter Würdigung aller Umstände mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass deshalb die Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung, die Arbeits-, Erwerbs- oder Vermittlungsfähigkeit beeinträchtigt oder nicht verbessert wird, kann der Leistungsträger die Leistung bis zur Nachholung der Mitwirkung ganz oder teilweise versagen oder entziehen.
- (3) Sozialleistungen dürfen wegen fehlender Mitwirkung nur versagt oder entzogen werden, nachdem der Leistungsberechtigte auf diese Folge schriftlich hingewiesen worden ist und seiner Mitwirkungspflicht nicht innerhalb einer ihm gesetzten angemessenen Frist nachgekommen ist.
- [1] In den Gesetzesmaterialien findet sich eine erste Kommentierung der Vorschrift zur Verletzung der Mitwirkungspflicht. Im Entwurf des SGB I wird zu § 66 SGB I, der heute noch nahezu unverändert gilt, in den Bundestagsdrucksachen vom 27. Juni 1973 ausgeführt (BT-Drucks. 7/868, Seite 34):
Bundestagsdrucksachen 7/868, Seite 34: Zu §§ 66 und 67: Folgen fehlender Mitwirkung
und Nachholung der Mitwirkung
§ 66 regelt die Sanktionen für eine Verletzung der Mitwirkungspflichten des Antragstellers oder Leistungsberechtigten nach rechtsstaatlichen und sozialpolitischen Gesichtspunkten. Er beruht auf dem Grundsatz der Zumutbarkeit und Verhältnismäßigkeit sowie der Kausalität zwischen der Verletzung von Mitwirkungspflichten und den daran anknüpfenden Einschränkungen von Sozialleistungen.
Absatz 1 betrifft die Fälle, in denen die an sich mögliche Sachaufklärung durch pflichtwidriges Verhalten des Antragstellers oder Leistungsberechtigten verzögert oder gar verhindert wird. Der zuständige Leistungsträger erhält die Befugnis, in solchen Fällen von eigenen Ermittlungen abzusehen und nach schriftlichem Hinweis auf die Folgen den Antrag auf Sozialleistungen abzulehnen oder eine bewilligte Leistung ganz oder teilweise zu entziehen. Die Grundsätze über die Anforderungen an den Umfang des Beweises (Glaubhaftmachung oder voller Beweis) und über die objektive Beweislast bleiben unberührt.
Während Absatz 1 die Verletzung von Verfahrenspflichten sanktioniert, regelt Absatz 2, was zu geschehen hat, wenn der Antragsteller oder Leistungsberechtigte infolge pflichtwidrigen Verhaltens mehr Sozialleistungen in Anspruch nehmen kann oder muss, als bei pflichtgemäßem Verhalten zu erwarten gewesen wäre. In Übereinstimmung mit den Vorschriften des geltenden Rechts geht die Regelung davon aus, dass die Folgen pflichtwidrigen Verhaltens nicht nur von der Gemeinschaft, sondern auch vom Antragsteller oder Leistungsberechtigten getragen werden müssen.
Eine Versagung oder Entziehung von Sozialleistungen ist nur unter den strengen Voraussetzungen des § 66 zulässig. Selbst wenn diese Voraussetzungen vorliegen, hat der Leistungsträger einen Ermessensspielraum, um besonderen und nicht voraussehbaren Umständen des Einzelfalls gerecht werden zu können. Holt der Antragsteller oder Leistungsberechtigte seine Mitwirkungspflichten nach und liegen die Leistungsvoraussetzungen vor, kann der Leistungsträger Sozialleistungen, die er nach § 66 versagt oder entzogen hat, nach § 67 nachträglich ganz oder teilweise erbringen.
- [2] Der Leistungsträger kann einer Erschwerung der Aufklärung des Sachverhalts infolge nicht erfüllter Mitwirkungspflichten gemäß den §§ 60-62 und 65 SGB I begegnen, indem er die Leistungen bis zur Nachholung der Mitwirkung versagt oder entzieht, § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I.
- [3] Versagen ist die – vorläufige – Nichtgewährung einer beantragten oder von Amts wegen zu erbringenden Leistung. Entziehen bedeutet, dass eine bereits bewilligte Dauerleistung ganz oder zum Teil – vorläufig – nicht mehr erbracht wird.
- [4] In § 66 Abs. 1 SGB I geht es um die Aufklärung des Sachverhalts, § 66 Abs. 2 SGB I orientiert sich an dem versicherungsrechtlichen Gedanken der Schadensminderungspflicht des Antragstellers oder Leistungsempfängers.
- [5] Die Amtsermittlungspflicht gemäß § 20 Untersuchungsgrundsatz
(1) Die Behörde ermittelt den Sachverhalt von Amts wegen. Sie bestimmt Art und Umfang der Ermittlungen; ...
(Link: Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 20 SGB X wird durch § 66 Abs. 1 SGB I nicht beseitigt. Der Leistungsträger muss sich weiter um die Aufklärung des Sachverhaltes bemühen.- [6] § 66 Abs. 1 Satz 2 regelt die absichtliche Erschwerung der Aufklärung des Sachverhalts.
- [7] Gegen eine Entscheidung zur Entziehung der Leistungen sind Widerspruch und Anfechtungsklage das richtige Rechtsmittel. Gegen die Versagung besteht Rechtsschutz über den Widerspruch und die kombinierte Anfechtungs- und Leistungsklage.
In den folgenden Beiträgen habe ich § 66 SGB I angesprochen:
Mitwirkungspflichten im SGB II
... das SGB II regelt die Mitwirkungspflichten des Leistungsberechtigten und Dritter ... | 1. Pflichten des Leistungsberechtigten ... | 2. Pflichten Dritter ...
... | mehr
Folgen einer Verletzung der Mitwirkungspflicht
... wegen fehlender Mitwirkung können Sozialleistungen ganz oder teilweise versagt werden ... | 1. Mitwirkungspflichten ... | 2. Ermessensausübung ... | 3. ...
... | mehr
Mitwirkungspflichten gemäß dem SGB I
... sozialrechtliche Mitwirkungspflichten werden in den §§ 60 ff. SGB I geregelt | fehlende Mitwirkung kann zur Entziehung oder Versagung von Leistungen führen
... | mehr
Mitwirkungspflichten hinsichtlich Behandlungs- oder Rehabilitationsmaßnahmen
Mitwirkungspflichten hinsichtlich Behandlungs- oder Rehabilitationsmaßnahmen und die Folgen bei Verletzung der Mitwirkungspflichten ... | 1. Heilbehandlung ...
... | mehr
Pflicht zur Vorlage von Kontoauszügen – Mitwirkungspflichten – Schwärzungsmöglichkeit
... müssen Kontoauszüge auf Anforderung vorgelegt werden? | Verletzung von Mitwirkungspflichten ... | Hinweis auf Schwärzungsmöglichkeit ...
... | mehr