Im Ausnahmefall kann ein Fall der vollen Erwerbsminderung aus Rechtsgründen – trotz eines in medizinischer Hinsicht noch nicht auf weniger als 3 bzw. 6 Stunden täglich herabgeminderten Leistungsvermögens – auch dann gegeben sein, wenn eine Tätigkeit unter den konkurrierenden Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch 3 bzw. 6 Stunden ausgeübt werden kann.
1. Verschlossenheit des Arbeitsmarktes trotz sechsstündigen Leistungsvermögens (Katalog-Fälle)
Nach § 43 Rente wegen Erwerbsminderung
…
(3) Erwerbsgemindert ist nicht, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 43 Abs. 3 2. Halbsatz SGB VI ist bei einem Leistungsvermögen von mindestens 6 Stunden täglich die konkrete Arbeitsmarktlage grundsätzlich nicht zu berücksichtigen.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts kann allerdings der Arbeitsmarkt auch bei einem noch sechsstündigen Leistungsvermögen ausnahmsweise verschlossen sein, wenn schwere spezifische Leistungseinschränkungen oder eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliegen. In der Regel dürfte aber nur Arbeitslosigkeit vorliegen.
Ausdrücklich ist noch einmal darauf hinzuweisen, dass gemäß § 43 Abs. 3 2. Halbsatz SGB VI die jeweilige Arbeitsmarktlage bei Leistungseinschränkungen von lediglich sechs Stunden arbeitstäglich grundsätzlich nicht zu berücksichtigen ist. Wer keinen geeigneten Arbeitsplatz findet ist deshalb – auch bei Vorliegen qualitativer Leistungseinschränkungen – lediglich arbeitslos und noch nicht erwerbsgemindert.
Das Bundessozialgericht hat dazu allerdings die sogenannten „Katalog-Fälle“ entwickelt (vergleiche unter anderem Urteil des Bundessozialgerichts vom 19. Dezember 1996 (GS 2/95):
… Die Rechtsprechung geht generell davon aus, dass es für Vollzeittätigkeiten Arbeitsplätze in ausreichendem Umfang gibt und der Arbeitsmarkt für den Versicherten offen ist, sodass eine diesbezügliche Prüfung im Einzelfall regelmäßig nicht vorgenommen zu werden braucht. Als Ausnahmen sind bislang nur solche Fallgestaltungen herausgestellt worden, in denen
- der Versicherte zwar an sich noch eine Vollzeittätigkeit ausüben kann, aber nicht unter den in den Betrieben üblichen Bedingungen (Katalogfall Nr. 1),
- der Versicherte zwar an sich noch eine Vollzeittätigkeit ausüben kann, entsprechende Arbeitsplätze aber aus gesundheitlichen Gründen nicht aufsuchen kann (Katalogfall Nr. 2),
- die Zahl der in Betracht kommenden Arbeitsplätze deshalb nicht unerheblich reduziert ist, weil der Versicherte nur in Teilbereichen eines Tätigkeitsfeldes eingesetzt werden kann (Katalogfall Nr. 3),
- für den Versicherten nur Tätigkeiten in Betracht kommen, die auf Arbeitsplätzen ausgeübt werden,
a) die an Berufsfremde nicht vergeben zu werden pflegen (Katalogfall Nr. 5),
b) die als Schonarbeitsplätze (Katalogfall Nr. 4) oder als Aufstiegspositionen (Katalogfall Nr. 6) nicht an Betriebsfremde vergeben werden, und - entsprechende Arbeitsplätze nur in ganz geringer Zahl vorkommen (Katalogfall Nr. 7).
…
2. Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bei teilweiser Erwerbsminderung
Wenn neben der teilweisen Erwerbsminderung gemäß § 43 Rente wegen Erwerbsminderung
(1) Versicherte haben bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung,…
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 43 Abs. 1 SGB VI zugleich Arbeitslosigkeit vorliegt, dann kann wegen der Verschlossenheit des (Teilzeit-) Arbeitsmarktes ein Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung bestehen. Die Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung schlägt dann in einen Anspruch auf Rente wegen voller Erwerbsminderung um.
Nach den vom Großen Senat des Bundessozialgerichts entwickelten Grundsätzen steht dem Versicherten, der nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann, der Arbeitsmarkt nur dann offen, wenn ihm vom Rentenversicherungsträger innerhalb eines Jahres seit Rentenantragstellung tatsächlich ein geeigneter Arbeitsplatz angeboten werden kann. Anders als beim voll erwerbsgeminderten Versicherten wird hier also die Arbeitsmarktlage nicht abstrakt betrachtet. Die Arbeitsmarktlage wird konkret betrachtet. Zu berücksichtigen sind dabei nur Arbeitsplätze auf dem regionalen Arbeitsmarkt, die der Versicherte durch tägliches Pendeln von seiner Wohnung aus erreichen kann. Kann einem Versicherten innerhalb eines Jahres – von der Antragstellung oder der vorher liegenden Arbeitslosmeldung angerechnet – ein leistungsgerechter Teilzeit Arbeitsplatz im Tagespendelbereich nicht angeboten werden, ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Teilzeit Arbeitsmarkt verschlossen ist (z. B. BSG vom 10. Dezember 1976, GS 2/75):
- Für die Beurteilung, ob ein Versicherter, der aufgrund seines Gesundheitszustandes nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann, berufsunfähig im Sinne des § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung oder erwerbsunfähig im Sinne des § 1247 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung ist, ist es erheblich, dass für die in Betracht kommenden Erwerbstätigkeiten Arbeitsplätze vorhanden sind, die der Versicherte mit seinen Kräften und Fähigkeiten noch ausfüllen kann.
- Der Versicherte darf auf Tätigkeiten für Teilzeitarbeit nicht verwiesen werden, wenn ihm für diese Tätigkeiten der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen ist.
- Dem Versicherten ist der Arbeitsmarkt praktisch verschlossen, wenn ihm weder der Rentenversicherungsträger noch das zuständige Arbeitsamt innerhalb eines Jahres seit Stellung des Rentenantrages einen für ihn in Betracht kommenden Arbeitsplatz anbieten kann.
- Der Versicherte darf in der Regel nur auf Teilzeitarbeitsplätze verwiesen werden, die er täglich von seiner Wohnung aus erreichen kann.
Silvie says
Gilt Schwangerschaft/Mutterschutz im Rentenverlauf als Pflichtbeitragszeit?
Rechtsanwalt S. Nippel says
Hallo Silvie,
Frauen, die wegen Schwangerschaft oder Mutterschaft während der Schutzfristen nach dem Mutterschutzgesetz eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit nicht ausgeübt haben, können jedenfalls dann Anrechnungszeiten gutgeschrieben werden, wenn eine sozialversicherungspflichtige Tätigkeit unterbrochen wurde § 58 Abs. 1 Nr. 2 SGB VI in Verbindung mit Abs. 2 S. 1.
Grüße
Sönke Nippel
Rechtsanwalt
digitalxxl says
Hallo sehr geehrter Herr Nippel,
ich habe aufgrund zweier schwerer Erkrankungen eine anerkannte Schwerbehinderung zu 100%.
Welche rechtliche Regelung besteht für mich, um festzustellen, ob ich teilweise oder voll erwerbsgemindert bin? Das Jobcenter stuft mich als voll erwerbsfähig ein, aber bei den Gutachtern, die vom JC beauftragt werden, muss man schon den Kopf unter dem Arm tragen, um nicht oder nur teilweise erwerbsgemindert zu sein.
Im Voraus vielen Dank für Ihre Zeit!
Rechtsanwalt S. Nippel says
Hallo digitalxxl,
Sie müssen ggf. bei der Deutschen Rentenversicherung einen entsprechenden Antrag stellen.
Die Rentenversicherung kann auch im Auftrag des Jobcenters tätig werden, wenn Sie die Voraussetzungen für den Erhalt einer Erwerbsminderungsrente (3/5 tel-Belegung) nicht erfüllen.
„Normalerweise“ hat das Jobcenter ein vitales Interesse daran, Sie an einen anderen Leistungsträger (die Rentenversicherung) „weiterzureichen“. Sie würden dann aus den entsprechenden Statistiken des Jobcenters verschwinden.
Grüße
Sönke Nippel
Rechtsanwalt
Eumeline says
Sehr geehrter Herr Nippel,
ich bin 55 und bekomme Arbeitsmarktrente seit kurzem und mein Psychiater sagt, das Arbeitsamt wird mich nicht in Ruhe lassen. Sollte ich mich weiterhin alle 4 Wochen krank schreiben lassen, um evtl. Auflagen, mich beim Arbeitsamt zu melden, entgegen zu wirken?
Ist die Aussage, der Arbeitsmarkt ist verschlossen, auf die aktuelle wirtschaftliche Situation bezogen oder auf meine individuelle Situation? Man konnte mich ja nicht vermitteln, weil ich seit über 3 Jahren durchgehend krank geschrieben bin. Mit meiner psychischen Erkrankung mit vielen Ängsten ist die Situation schwer auszuhalten.
Danke für Ihren Rat.
Rechtsanwalt S. Nippel says
Hallo Eumeline,
eine Vorstellung beim Arzt empfiehlt sich in der Regel schon deshalb, um möglichst die Gesundheit wieder herzustellen.
Eine Arbeitsmarktrente wird geleistet, wenn die Erwerbsminderung nur teilweise eingeschränkt ist, jedoch unter Berücksichtigung der Arbeitsmarktlage keine Teilzeitbeschäftigung mehr möglich ist.
Die Arbeitsmarktrente wird geleistet, wenn das Restleistungsvermögen des Versicherten auf unter sechs Stunden täglich gesunken ist, jedoch noch mindestens drei Stunden täglich beträgt und der Arbeitsmarkt als „verschlossen“ gilt. Als verschlossen gilt der Arbeitsmarkt dann, wenn seitens des Rentenversicherungsträgers oder der Arbeitsverwaltung dem Versicherten innerhalb eines Jahres kein passender Teilzeitarbeitsplatz angeboten werden kann.
Mit freundlichen Grüßen
Sönke Nippel
Rechtsanwalt