Kann das Jobcenter arbeitssuchenden EU-Angehörigen ALG-II-Leistungen mit einem Hinweis auf § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II verwehren?
Gemäß § 7 Abs. 1 S. 2 SGB II erhalten Ausländer keine ALG-II-Leistungen, wenn sich deren Aufenthaltsrecht allein aus dem Zweck der Arbeitssuche ergibt.
1. Entscheidung des EuGH zu den Fällen „Vatsouras“ und „Koupatantze“ (www.curia.europa.euC-22/08 und C-23/08)
Der Europäische Gerichtshof stellte mit Urteil vom 4. Juni 2009 in den Fällen „Vatsouras“ und „Koupatantze“ (C-22/08 und C-23/08) klar,
(Randnummer 36) Die Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats, die in einem anderen Mitgliedstaat eine Beschäftigung suchen, fallen in den Anwendungsbereich von Art. 39 EG und haben daher Anspruch auf die in Abs. 2 dieser Bestimmung vorgesehene Gleichbehandlung (Urteil vom 15. September 2005, Ioannidis, C 258/04, Slg. 2005, I 8275, Randnr. 21).
(Randnummer 37) Außerdem ist es angesichts der Einführung der Unionsbürgerschaft und der Auslegung, die das Recht der Unionsbürger auf Gleichbehandlung in der Rechtsprechung erfahren hat, nicht mehr möglich, vom Anwendungsbereich des Art. 39 Abs. 2 EG eine finanzielle Leistung auszunehmen, die den Zugang zum Arbeitsmarkt eines Mitgliedstaats erleichtern soll (Urteile vom 23. März 2004, Collins, C 138/02, Slg. 2004, I 2703, Randnr. 63, und Ioannidis, Randnr. 22).
EU-Angehörige haben also grundsätzlich einen Anspruch auf Leistungen nach dem SGB II! § 7 Leistungsberechtigte
(1) … .
Ausgenommen sind
1. …
2. Ausländerinnen und Ausländer, die weder …
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II, der allein zum Zweck der Arbeitsaufnahme Eingereiste von Leistungen ausschließt, ist dann rechtswidrig. Dies gilt jedenfalls, wenn das ALG II als finanzielle Leistung den Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtern soll.
Seit dem 29. Dezember 2016 erhalten EU-Bürger in Deutschland nur noch dann Sozialhilfe oder Bürgergeld, wenn sie durch Beitragszahlungen in die deutschen Sozialsysteme Ansprüche erworben haben. Ansonsten sind EU-Bürger erst nach einem Aufenthalt von fünf Jahren in Deutschland zum Empfang von Sozialleistungen berechtigt.
§ 7 SGB II und § 23 Sozialhilfe für Ausländerinnen und Ausländer
(1) Ausländern, die sich im Inland tatsächlich aufhalten, ist Hilfe zum Lebensunterhalt, Hilfe bei Krankheit, Hilfe bei Schwangerschaft und Mutterschaft sowie Hilfe zur Pflege nach diesem Buch zu leisten. Die Vorschriften des Vierten Kapitels bleiben unberührt. Im Übrigen …
…
(Link: zum Gesetzestext hier im Internetauftritt)§ 23 SGB XII wurden entsprechend angepasst. Die Änderungen in den Vorschriften sowie auch Stellungnahmen des DGB, der Diakonie, der Arbeitgeberverbände, … finden Sie im Internetauftritt des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Aus den hier genannten Entscheidungen des EuGH kann also spätestens seit 2017 kein Anspruch mehr hergeleitet werden!
Zur Gesetzeslage ab 2017 vergleiche den Beitrag:
Einschränkend führte der EuGH allerdings aus:
(Randnummer 38) Es ist jedoch legitim, dass ein Mitgliedstaat eine solche Beihilfe erst gewährt, nachdem das Bestehen einer tatsächlichen Verbindung des Arbeitsuchenden mit dem Arbeitsmarkt dieses Staates festgestellt wurde (Urteile vom 11. Juli 2002, D’Hoop, C 224/98, Slg. 2002, I 6191, Randnr. 38, und Ioannidis, Randnr. 30).
Art. 39 EG-Vertrag lautet:
(1) Innerhalb der Gemeinschaft ist die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gewährleistet.
(2) Sie umfasst die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer der Mitgliedstaaten in Bezug auf Beschäftigung, Entlohnung und sonstige Arbeitsbedingungen.
(3) Sie gibt — vorbehaltlich der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen — den Arbeitnehmern das Recht,
a) sich um tatsächlich angebotene Stellen zu bewerben;
b) sich zu diesem Zweck im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen;
c) sich in einem Mitgliedstaat aufzuhalten, um dort nach den für die Arbeitnehmer dieses Staates geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften eine Beschäftigung auszuüben;
d) nach Beendigung einer Beschäftigung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats unter Bedingungen zu verbleiben, welche die Kommission in Durchführungsverordnungen festlegt.
(4) Dieser Artikel findet keine Anwendung auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung.
2. Entscheidungen des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Eilverfahren vom 4. Oktober 2010 und 7. Oktober 2011 (www.justiz.nrw.deL 19 AS 942/10 und www.justiz.nrw.deL 19 AS 1560/11 B ER)
Noch ist nicht entschieden, ob § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit Gemeinschaftsrecht vereinbar ist. Das LSG NRW führte dazu zuletzt am 7. Oktober 2011 in der oben genannten Eilentscheidung aus (zu II. 2.):
Die Vereinbarkeit der Vorschrift des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit Gemeinschaftsrecht der EU ist in Rechtsprechung, Kommentierung und inzwischen reichhaltiger Judikatur umstritten (exemplarisch aus jüngerer Zeit: LSG Berlin-Brandenburg Beschlüsse vom 09.09.2010 – L 10 AS 1023/10 B ER – und vom 29.11.2010 – L 34 AS 1001/10 B ER, LSG NRW Beschlüsse vom 04.10.2010 – L 19 AS 942/10 B und vom 17.05.2011 – L 6 AS 356/11 B ER – m. w. N.). Der Streit besteht im Wesentlichen vor dem Hintergrund der höchstrichterlich bislang nicht entschiedenen Frage, ob der Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II entsprechend den Vorstellungen des Gesetzgebers durch den Vorbehalt des Art. 24 Abs. 2 der Richtlinie 2004/38/EG gedeckt ist, weil es sich bei den Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II um Sozialhilfeleistungen handelt, oder ob es sich um Leistungen der sozialen Sicherheit bzw. zur Eingliederung in Arbeit handelt, die freizügigkeitsberechtigten Unionsbürgern unter Verstoß gegen das Verbot der Differenzierung nach Staatsangehörigkeit und/oder das allgemeine Differenzierungsverbot vorenthalten werden. Sowohl der EuGH als auch das BSG haben die Frage in jüngeren Entscheidungen offen gelassen (EuGH Urteil vom 04.06.2009 – C-22/08 und C-23/08 – Vatsouras/Koupatantze; BSG Urteil vom 19.10.2010 – B 14 AS 23/10 R). Auch der Senat sieht die Frage als weiterhin ungelöst an und gewährt vom Leistungsausschluss nach § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II betroffenen freizügigkeitsberechtigten Alt-EU-Bürgern und Bürgern der neuen EU-Staaten nach Ablauf der für die jeweiligen Staaten geltenden einschränkenden Übergangsregelungen einstweilig Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II (z.B. Beschluss vom 17.02.2010 – L 19 B 392/09 AS ER betreffend eine britische Staatsangehörige im Besitz einer Freizügigkeitsbescheinigung nach § 5 FreizügG/EU).
p. s.: einen aktuellen Artikel zur Freizügigkeitsberechtigung von EU-Ausländern finden Sie auch unter www.rechtsanwalt-und-verwaltungsrecht.de – „Die Freizügigkeitsberechtigung – Stand: 29. November 2017″
Spanienrückkehrer says
Frage zu § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II
Guten Tag,
ich bin Deutscher, habe aber seit 2004 im EU-Ausland gelebt und gearbeitet. Zuletzt seit 2010 als Selbstständiger in Spanien. Aufgrund mangelndem wirtschaftlichen Erfolg habe ich das dortige Geschäft Anfang des Jahres geschlossen. Seit etwas über 4 Jahren bin ich mit einer Bürgerin Weißrusslands verheiratet. Die Eheschließung war auch im Ausland. Meine Frau verfügt über die spanische Aufenthaltskarte nach Freizügigkeitsgesetz der EU, gültig bis 2016. Zuvor hatte sie schon die Aufenthaltskarte der tschechische Republik bis zu unserem Umzug nach Spanien. Nach unserer Rückkehr nach Deutschland haben wie nunmehr ALG2 beantragt. Zu meiner Person wurde recht schnell entschieden. Leistungsbewilligung anteilmäßig für Tage im März 126,-€ , sowie für April 345,-€. Für meine Ehefrau hingegen wurde der Antrag abgelehnt. Gleiches gilt für die Kostenzusage für Wohnraum. Auch hier wurde nur nach den Vorgaben für eine Einzelperson für mich alleine entschieden.
Von verschiedenen Stellen, u.a. von zwei anderen, auswärtigen Job-Centern, wo ich bezüglich Wohnraumkosten vorgesprochen habe, wurde ich darauf hingewiesen, das die Entscheidung bezüglich meiner Frau falsch seien. Es wurde mir dringend angeraten, Widerspruch gegen den Bescheid einzulegen. Eine erneute Vorsprache bei dem entscheidendem Job-Center hatte zu keinem anderen Ergebnis geführt.
Es wäre nett, wenn Sie mir Ihre Meinung hierzu mitteilen könnten.
Mit freundlichen Grüßen
Rechtsanwalt S. Nippel says
Hallo Spanienrückkehrer,
also – ohne eine nähere Prüfung Ihrer Ausführungen – ich würde an Ihrer Stelle auch Widerspruch einlegen und die Entscheidung Ihres Jobcenters überprüfen lassen!
Grüße
Mutter eines Rückkehrfalls says
Ich bin deutscher Staatsbürger und habe 1,5 Jahre in Holland dauerhaft gelebt und auch gearbeitet.
In diesem Zeitraum ist meine Mutter nach dem EU-Freizügigkeitsgesetz als Familienangehörige aus einem Drittstaatsland zu mir nach Holland gezogen.
im Jahr 2020 bin ich nach Deutschland zurück gekehrt. Meine Mutter hat auch in Deutschland eine Aufenthaltskarte für Familienangehörige nach dem EU-Freizügigkeitsgesetz für 5 Jahre ausgestellt bekommen. (Rückkehrfälle)
Im Schreiben von der Ausländerbehörde ist sie jedoch darauf hingewiesen worden, dass ein Bezug von Sozialleistungen zum Verlust
der Freizügigkeit als Familienangehörige führen kann.
Seit 2020 lebt meine Mutter in meinem Haushalt. Sie bezieht lediglich eine tunesische Rente in Höhe von ca. 90€ monatlich. Bis heute sind wir finanziell auch ohne Bezug von jeglichen Leistungen gut ausgekommen.
Aufgrund von erneutem Familienzuwachs hat sich unsere finanzielle Situation nun verschlechtert, so dass ich nun nicht mehr für alle anfallenden Kosten meiner Mutter aufkommen kann.
Auch haben wir in unserer Wohnung leider kein Platz mehr für meine Mutter und sie müsste langfristig ausziehen und sich eine kleine Wohnung in unserer Nähe suchen.
Hat meine Mutter, ergänzend zu den von mir gezahlten Unterhalt vielleicht doch Anspruch auf Sozialleistungen, ohne dass dies zum Verlust der Freizügigkeit als Familienangehörige führt, oder müssen wir damit rechnen, dass nach dem Antrag auf ALG II es zu Problemen mit Ihrem Aufenthalt kommen kann?