Im Mittelpunkt steht hier nicht die Kostengrundentscheidung nach § 63 SGB X, sondern die Höhe der erstattungsfähigen Kosten in der Kostenfestsetzung nach erfolgreichen Widerspruch und Kostengrundentscheidung zugunsten des Mandanten. Dann führt die Anrechnungssystematik des VV-RVG bei Tätigwerden des Anwalts auch im Vorverfahren dazu, dass trotz erfolgreichem Widerspruchs die Kostenerstattung durch die Behörde niedriger ausfällt.
- 1. Überblick: Warum trotz Erfolg weniger erstattet wird
- 2. Auswirkungen im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren (mit Beispielen)
- 3. Auswirkungen im Klageverfahren
- 4. Besonderheiten bei Beratungshilfe (mit Beispielen)
- 5. Rechtlicher Hintergrund der Anrechnung
- 6. Weiterführende Beiträge & Rechtsgrundlagen
1. Überblick: Warum trotz Erfolg weniger erstattet wird
Die Betragsrahmengebühren im Sozialrecht werden nach § 14 RVG bestimmt. Wird der Rechtsanwalt bereits im Antrags- oder Verwaltungsverfahren tätig, entsteht dort eine Geschäftsgebühr nach Nr. 2302 VV-RVG. Kommt es anschließend zu einem Widerspruch, fällt hierfür eine weitere Geschäftsgebühr an, die nach § 15a RVG zur Hälfte auf die vorherige Tätigkeit anzurechnen ist. Im Ergebnis wird die Widerspruchsgebühr bei vorangegangener Tätigkeit im Vorverahren also reduziert.
Ergebnis:
Die erfolgreiche Kostenerstattung im Widerspruchsverfahren nach § 63 SGB X fällt geringer aus, wenn der Anwalt bereits im Vorverfahren tätig war. Der Mandant trägt faktisch die Hälfte der Geschäftsgebühr für das Widerspruchsverfahren selbst, weil die zuvor angefallene Gebühr angerechnet wird.
Kurz gesagt: Frühzeitige anwaltliche Tätigkeit führt im Ergebnis zu niedrigeren von der Behörde zu erstattenden Gebühren im Widerspruchsverfahren.
Der vorsorglich handelnde Mandant wird so für sein vorsorgliches Handeln – Beauftragung eines Rechtsanwalts bereits im Vorverfahren – gebührenrechtlich „bestraft“. Er bleibt nicht nur auf den Kosten des Vorverfahrens „sitzen“, sondern verliert auch noch den hälftigen Anspruch auf den Ersatz der Geschäftsgebühr für das Widerspruchsverfahren.
Hätte der Mandant den Anwalt erst zum Widerspruchsverfahren hin beauftragt, müsste die Behörde „mehr erstatten“. Die Behörde müsste für das Widerspruchsverfahren die Anwaltsgebühren gemäß VV-Nr. 2302 in Höhe von 451,00 € (zzgl. Postpauschale und Umsatzsteuer) statt jetzt nur noch 225,50 € gemäß VV-Nr. 2302 erstatten. Ein Ergebnis, das nicht befriedigen kann.
2. Auswirkungen im Verwaltungs- und Widerspruchsverfahren (mit Beispielen)
Beispiel 1 (mit Vorbefassung im Verwaltungsverfahren):
Anwalt bereits vor dem Widerspruch tätig → im Widerspruch Anrechnung der vorherigen Gebühr.
| Verwaltungs-/Antragsverfahren – Geschäftsgebühr Nr. 2302 VV-RVG | 451,00 € |
| Auslagenpauschale Nr. 7002 VV-RVG | 20,00 € |
| Zwischensumme | 471,00 € |
| USt Nr. 7008 VV-RVG (19 %) | 89,49 € |
| Summe | 560,49 € |
| Widerspruch – hälftige Mittelgebühr der Geschäftsgebühr nach Anrechnung Nr. 2302 VV-RVG | * 225,50 € |
| Auslagenpauschale Nr. 7002 VV-RVG | 20,00 € |
| Zwischensumme | 245,50 € |
| USt Nr. 7008 VV-RVG (19 %) | 46,64 € |
| Summe | 292,14 € |
* Aufgrund von Vorbemerkung 2.3 Abs. 4 VV-RVG beträgt der Anrechnungshöchstbetrag 225,00 €
Insgesamt muss die unterlegene Behörde jetzt „nur noch“ 291,85 € erstatten. Wäre der Anwalt im Vorverfahren nicht tätig gewesen, müsste sie 560,49 € erstatten. Warum der Behörde im Rahmen der Kostenerstattung die Anrechnung zugute kommen soll, ist für mich nicht verständlich.
3. Auswirkungen im Klageverfahren
Auch im Klageverfahren führt die Vorbefassung im Widerspruchsverfahren zu einer um die hälftige Geschäftsgebühr verminderten Verfahrensgebühr. Die Anrechnung erfolgt über § 15a RVG; einschlägig ist Nr. 3102 VV-RVG.
| Klage – Verfahrensgebühr – 1/2 Geschäftsgebühr Nr. 3102 VV-RVG | 166,75 € |
| Auslagenpauschale Nr. 7002 VV-RVG | 20,00 € |
| Zwischensumme | 186,75 € |
| USt Nr. 7008 VV-RVG (19 %) | 35,48 € |
| Summe | 222,23 € |
Im Gerichtsverfahren wird allerdings letztendlich eine einheitliche Kostenentscheidung für das Klage- und Widerspruchsverfahren getroffen. Die Anrechnungssystematik selbst hat ihren guten Sinn. Ist allerdings auch hier ein Vorverfahren dem Widerspruchsverfahren vorangegangen, so bleibt es oben bei dem Ergebnis zu 2.
4. Besonderheiten bei Beratungshilfe (mit Beispielen)
Das zuvor für das Widerspruchsverfahren Ausgeführte lässt sich für das Beratungshilfeverfahren „fortspinnen“.
Bei Beratungshilfe entsteht für die außergerichtliche Vertretung eine Gebühr nach Nr. 2503 VV-RVG.
Der Kostenerstattungsanspruch des Mandanten geht gesetzlich auf den Anwalt über (§ 9 S. 2 BerHG).
Auch hier kann eine frühere Tätigkeit im Verwaltungsverfahren zur Kürzung der späteren Gebühren führen.
5. Rechtlicher Hintergrund der Anrechnung
- § 14 RVG – Bemessung der Betragsrahmengebühren nach Umfang, Schwierigkeit, Bedeutung etc.
- § 15a RVG – Anrechnung bei mehreren Tätigkeiten in derselben Angelegenheit.
- Vorbemerkung 2.3 Abs. 4 VV-RVG – Hälftige Anrechnung der Geschäftsgebühr auf die Verfahrensgebühr (mit Höchstgrenze).
- § 17 RVG – Bestimmung der Angelegenheit; wichtig für die Frage, ob und wie eine Anrechnung greift.
Praxis: Die Rechenbeispiele verwenden die Mittelgebühr (Nr. 2302: 451,00 €) innerhalb des Rahmens (65,00–837,00 €).
Die konkrete Festsetzung richtet sich stets nach § 14 RVG.
6. Weiterführende Beiträge & Rechtsgrundlagen
Weiterführend zu Kostenfestsetzung (Höhe), Gebührenrecht und Anrechnung:
§ 63 SGB X · § 14 RVG · Nr. 2302 VV-RVG · Nr. 3102 VV-RVG · Nr. 7002 VV-RVG · Nr. 7008 VV-RVG · § 15a RVG · § 17 RVG.



RAe Schlicht Ortmann Blase - Frau Hollack - says
Ich brauche Mal Ihre Hilfe! Habe gegenüber dem Jobcenter abgerechnet. Wir waren im Verwaltungsverfahren tätig und dann im Widerspruchsverfahren und auch anschließendem Klageverfahren. Habe natürlich bei Jobcenter alle Gebühren Nr. 2400 und 2401 abgerechnet. Nun will das Jobcenter natürlich die Erstattung der 309,40 € nicht vornehmen.
Gibt es da irgendwelche Entscheidungen, habe leider nichts passendes gefunden? Können Sie mir weiterhelfen oder braucht das Jobcenter generell diese Kosten nicht tragen. Aus dem RVG geht das nicht explizit hervor.
Vielen Dank!
Mit freundlichen Grüßen
B. Hollack
Rechtsanwalt S. Nippel says
Hallo,
Rechtsgrundlage für die Erstattung der Kosten im Widerspruchsverfahren ist § 63 SGB X.
Weitere Kosten muss das Jobcenter m. E. nicht ersetzen. Höchst ärgerlich, wenn man dann noch im Vorverfahren tätig geworden ist und jetzt die Gebühren des Widerspruchsverfahrens nur nach VV-Nr. 2401 und nicht nach 2400 ersetzt werden. Aber eine Erstattung von Kosten des Verfahrens vor dem Widerspruch sieht das SGB X nicht vor (ich lasse mich gerne eines Besseren belehren). Evtl. hilft dann eine Abrechnung über einen ggf. vorhandenen Beratungshilfeschein.
Grüße
Sönke Nippel
p.s.: die „Anrechnung“ der Geschäftsgebühr über VV-Nr. 2401 hat sich heute gemäß Vorbemerkung 2.3 Abs. 4 geändert
Turrican4D says
Hallo Herr Nippel,
ich bin rechtsschutzversichert und mein Anwalt hat im Februar 2008 für mich ein Widerspruchs- und direkt im Anschluss ein Klageverfahren in Sachen einer zu niedrig angesetzten KdU gegen die Optionskommune geführt.
Das Widerspruchsverfahren war nicht erfolgreich und statt einen Erfolg des Klageverfahrens durch Urteil des zuständigen Sozialgerichts gegen die Beklagte anzupeilen, hat er am ersten und einzigen Verhandlungstag im April 2011 eine vergleichsweise Einigung angestrebt, auf die sich die Beklagte erst im Januar 2013(!) einließ.
Nun falle ich im Oktober 2013 mit einem Schrecken aus allen Wolken, als mein Anwalt mir eine Kostennote zukommen ließ, in der er sage und schreibe Gebühren für vier Widerspruchsverfahren nach VV-Nr. 2400 zzgl. Post und Telekommunikation & MWSt, also 4 x 309,40 € = 1237,60 € ansetzt und mir selbst in Rechnung stellt, mit dem Hinweis, dass meine Rechtsschutzversicherung die Kostenübernahme des Widerspruchsverfahrens mit Schreiben März 2013 verweigert habe!
Dass bei Streitigkeiten im ALG2-Bereich auch während eines laufenden Klageverfahrens weiterhin alle sechs Monate ALG2-Bescheide erteilt werden, gegen die mein Anwalt Widerspruch einlegte, heißt doch nicht automatisch, dass es sich um mehr als ein einziges Widerspruchsverfahren handelt, oder?
Außerdem hätte mein Anwalt doch vor Eröffnung des Widerspruchsverfahrens eine Deckungsanfrage bei meiner Versicherung einholen müssen, statt erst fünf Jahre später und mich im Falle einer Ablehnung darüber informieren müssen, BEVOR er ohne Rücksprache mit mir jahrelang Brief um Brief an die Behörde schickt?
Zudem hätte er doch, wenn er ein Urteil des Sozialgerichts nicht abwarten will und stattdessen lieber einen Vergleich anstrebt, darauf hinwirken müssen, dass in besagtem Vergleich die Beklagte sich verpflichtet, die Anwaltsgebühren des Klägers in voller Höhe zu übernehmen, so dass hier meines Erachtens doch ein Beratungsfehler vorliegt.
Ich bin geschockt, enttäuscht und auch ein wenig sauer und wäre für Ihre Meinung sehr dankbar.
Grüße
T.W.
Rechtsanwalt S. Nippel says
Hallo Turrican,
Sie sprechen von KdU und ALG II – handelte es sich um Leistungen nach dem SGB II, um die gestritten wurde?
Warum haben Sie dann keine Prozesskostenhilfe beantragt?
Ohne genaueste Kenntnis des Vorgangs wage ich hier nicht, eine Auskunft zu treffen. Nach Ihren Angaben scheint Einiges „schief gelaufen“ zu sein.
Versuchen Sie doch ggf. einen Beratungshilfeschein von dem für Sie zuständigen Amtsgericht zu erhalten und beauftragen Sie einen Kollegen möglichst in Ihrer Nähe mit der Prüfung der Kostennote. Ggf. würde auch Ich Ihnen gerne helfen.
Grüße