Wer einen Bescheid vom Jobcenter, der Rentenversicherung oder einer Krankenkasse erhält, kann dagegen Widerspruch einlegen – das Widerspruchsverfahren ist der zentrale erste Rechtsbehelf im Sozialrecht.
- Frist: 1 Monat ab Bekanntgabe der Entscheidung (§ 84 Abs. 1 SGG). Bei fehlerhafter Rechtsbehelfsbelehrung 1 Jahr (§ 66 Abs. 2 SGG).
- Form: Schriftlich oder zur Niederschrift; Unterschrift erforderlich (§ 84 Abs. 1 SGG). Elektronisch nur bei eröffnetem Zugang.
- Wirkung: Grundsätzlich aufschiebend (§ 86a SGG); Ausnahmen beachten.
- Dauer: Entscheidung innerhalb von 3 Monaten, sonst Untätigkeitsklage (§ 88 Abs. 2 SGG).
- 1. Anwendbare Regelungen
- 2. Widerspruchsverfahren als Klagevoraussetzung
- 3. Beginn des Widerspruchsverfahrens
- 4. Widerspruchsfrist
- 5. Form des Widerspruchs
- 6. Vertretung
- 7. Akteneinsicht
- 8. Ablauf des Widerspruchsverfahrens
- 9. Wirkung des Widerspruchs
- 10. Kosten des Widerspruchs
- 11. Dauer und Bestand der Widerspruchsverfahren
- 12. Muster eines Widerspruchs
- 13. Häufige Fragen
- 14. Weiterführende Beiträge & Rechtsgrundlagen
1. Anwendbare Regelungen
Wo ist das Widerspruchsverfahren geregelt?
Ist der Sozialrechtsweg gegeben, ist das Sozialgerichtsgesetz (SGG) anwendbar – ist der Verwaltungsrechtsweg einschlägig, ist die Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) anzuwenden, § 62 SGB X.
Nachfolgend sollen nur die einschlägigen Vorschriften bei Anwendbarkeit des SGG aufgezeigt werden: § 83 SGG, § 84 SGG und § 85 SGG. Diese Vorschriften des SGG entsprechen im Wesentlichen denen der VwGO.
2. Widerspruchsverfahren als Klagevoraussetzung
Wer durch den Erlass eines belastenden oder die Ablehnung eines beantragten begünstigenden Verwaltungsaktes in seinen Rechten verletzt wird, kann hiergegen Anfechtungs- oder Verpflichtungsklage erheben, § 78 Abs. 1 S. 1 SGG. Voraussetzung für eine Klage ist die Durchführung eines Widerspruchs- bzw. Vorverfahrens, § 78 Abs. 1 und 3 SGG.
Die erfolglose Durchführung des Widerspruchsverfahrens ist Voraussetzung für den anschließenden Weg zum Sozialgericht. Es handelt sich um eine unverzichtbare Sachurteilsvoraussetzung.
3. Beginn des Widerspruchsverfahrens
Wann beginnt das Widerspruchsverfahren?
Das Widerspruchsverfahren beginnt mit der Erhebung des Widerspruchs gemäß § 83 SGG.
Ohne Erhebung des Widerspruchs wird kein Vorverfahren durchgeführt.
4. Widerspruchsfrist
Welche Frist gilt für den Widerspruch?
Wie ist die Widerspruchsfrist zu berechnen?
Der Widerspruch ist bei der Ausgangsbehörde innerhalb eines Monats nach Bekanntgabe des Verwaltungsaktes einzulegen, § 84 Abs. 1 SGG.
Gemäß § 37 Abs. 2 S. 1 SGB X gilt der durch einfachen Brief bekannt gegebene Verwaltungsakt grundsätzlich als mit dem dritten Tage nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Bei Versendung des Bescheides mit einfachem Brief gilt der Bescheid am 3. Tag nach Aufgabe zur Post als bekannt gegeben. Endet die errechnete Monatsfrist an einem Samstag, Sonntag oder gesetzlichen Feiertag, so verschiebt sich das Fristende auf den darauf folgenden Werktag.
Der Widerspruch muss innerhalb der Monatsfrist in den Machtbereich der Behörde gelangen.
Bei einer fehlerhaften Rechtsbehelfsbelehrung beträgt die Widerspruchsfrist ein Jahr, § 66 Abs. 2 SGG.
Im Falle der Versäumung der Frist kann ggf. ein Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gewährt werden.
weiterführende Beiträge zu Bekanntgabe des Verwaltungsakt, zur Rechtsbehelfsbelehrung und zur Wiedereinsetzung:
- Bekanntgabe eines Verwaltungsaktes, § 37 SGB X
... zur Behauptung des Nichtzugangs eines mittels einfachen Briefs übersandten Verwaltungsakts – Rechtsprechung des Bundessozialgerichts zum Zugang eines VA ...
... | mehr - Rechtsbehelfsbelehrung beim Verwaltungsakt (SGB X/SGG): Inhalt, Frist, Fehlerfolgen
Was muss eine Rechtsbehelfsbelehrung enthalten? Stelle/Anschrift, Frist und Form – mit Beispielen und Folgen bei Fehlern: Jahresfrist nach § 66 SGG. Praxis-Hinweise zu § 36 SGB X, § 84 SGG und § 37 SGB X
... | mehr - Versäumung der Rechtsmittelfrist – Wiedereinsetzung
... zur Wiedereinsetzung bei einer Versäumung der ordnungsgemäß mitgeteilten Rechtsmittelfrist bei fehlender Begründung oder Anhörung ...
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Fristberechnung kompakt: Bekanntgabe + 1 Monat. Fällt der Endtag auf Sa/So/Feiertag → Ablauf am nächsten Werktag (§ 64 SGG i. V. m. § 222 ZPO, § 193 BGB).
Falsche Behörde? Der Widerspruch wahrt die Frist, wenn er bei der unzuständigen Behörde eingeht und rechtzeitig weitergeleitet wird (§ 84 Abs. 2 SGG).
5. Form des Widerspruchs
In welcher Form muss der Widerspruch erhoben werden?
Der Widerspruch ist schriftlich oder zur Niederschrift einzureichen, § 84 Abs. 1 SGG.
Das Schriftformerfordernis verlangt, dass der Widerspruch unterschrieben sein muss. Die mündliche oder telefonische Einlegung genügt nicht.
Der Widerspruch kann – sofern der Träger einen elektronischen Zugang eröffnet hat – auch elektronisch erhoben werden (z. B. per qualifiziert elektronisch signiertem Dokument oder über einen sicheren Übermittlungsweg).
6. Vertretung
Der Widerspruchsführer kann sich in jeder Lage des Verfahrens vertreten lassen, § 73 SGG.
Hat sich ein Bevollmächtigter für den Beteiligten im Widerspruchsverfahren bestellt, so muss sich die Behörde an diesen wenden, § 13 Abs. 3 S. 1 SGB X. Sie kann sich an den Beteiligten selbst wenden, soweit er zur Mitwirkung verpflichtet ist, § 13 Abs. 3 S. 2 SGB X.
7. Akteneinsicht
Das allgemeine Recht auf Akteneinsicht gemäß § 25 SGB X gilt auch im Widerspruchsverfahren. Nur § 25 Abs. 4 SGB X gilt im Widerspruchsverfahren nicht, § 84 a SGG.
§ 84 a SGG erlaubt es der Verwaltung, die Akte zur Akteneinsicht an die Rechtsanwälte zu versenden. Ein Anspruch auf Versendung besteht aber nicht. Ein Ermessensversand an den Rechtsanwalt ist möglich. Ansonsten muss die Einsicht in der Behörde erfolgen.
8. Ablauf des Widerspruchsverfahrens
Zunächst prüft die Ausgangsbehörde den angegriffenen Bescheid auf seine Rechtmäßigkeit.
Wird der Widerspruch für begründet erachtet, so ist ihm abzuhelfen, § 85 SGG.
Hilft die ursprünglich zuständige Behörde dem Widerspruch nicht ab, so legt sie den Widerspruch der Widerspruchsbehörde zur Entscheidung vor, § 85 Abs. 2 SGG.
Wer zuständige Widerspruchsbehörde ist, richtet sich nach § 85 Abs. 2 SGG:
- Nach Nr. 1 entscheidet die nächsthöhere Behörde oder, wenn diese eine oberste Bundes- oder Landesbehörde ist, die Ausgangsbehörde.
- Nach Nr. 2 entscheidet in Angelegenheiten der Sozialversicherung die von der Vertreterversammlung in der Satzung bestimmte Stelle.
- Nach Nr. 3 entscheidet in Angelegenheiten der Bundesagentur für Arbeit mit Ausnahme der Angelegenheiten nach dem SGB II die von dem Vorstand bestimmte Stelle.
- Nach Nr. 4 entscheidet in Angelegenheiten der kommunalen Selbstverwaltung die Selbstverwaltungsbehörde, soweit nichts anderes bestimmt ist.
- Für die Angelegenheiten der Grundsicherung modifiziert Abs. 2 S. 2 die Grundregel des Satzes 1 Nr. 1 dahingehend, dass die Ausgangsbehörde selbst über den Widerspruch entscheidet.
Das Verfahren wird durch den Erlass eines Widerspruchsbescheides bzw. eines Abhilfebescheides beendet. Der Widerspruchsbescheid ist schriftlich zu erlassen, zu begründen und bekannt zu geben, § 85 Abs. 3 S. 1 SGG. Durch das Schriftformerfordernis soll sichergestellt werden, dass die wiedergegebene Entscheidung tatsächlich der Beschlussfassung entspricht und dafür im Wesentlichen die mitgeteilten Gründe maßgeblich sind.
a) Wartefrist
Die Behörde soll innerhalb von drei Monaten über den Widerspruch entscheiden, § 88 Abs. 2 SGG. Ansonsten droht eine Untätigkeitsklage.
Antrag auf Verwaltungsakt | 6 Monate |
Widerspruch | 3 Monate |
b) Abhilfebescheid / Teilabhilfe
Abhilfe: Gibt die Behörde dem Widerspruch ganz oder teilweise statt, ergeht ein Abhilfebescheid.
Bei nur teilweiser Änderung spricht man von einem Teilabhilfebescheid.
Wird nicht vollständig abgeholfen, folgt zusätzlich ein Widerspruchsbescheid, gegen den Klage zum Sozialgericht erhoben werden kann.
9. Wirkung des Widerspruchs
Der Widerspruch entfaltet in der Regel aufschiebende Wirkung, d. h. der Widerspruch verhindert die Vollstreckung des Verwaltungsaktes, § 86a SGG.
Ausnahmen von der aufschiebenden Wirkung nennt § 86a Abs. 2 SGG (z. B. gesetzlicher Ausschluss oder angeordnete sofortige Vollziehung). Dann ist Eilrechtsschutz erforderlich.
weiterführende Beiträge zur aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs:
- Änderungsbescheid - Wirkung des Widerspruchs und der Klage
... nach § 86 a Abs. 2 Nr. 3 SGG hat ein Änderungsbescheid, der die laufende Leistung herabsetzt oder entzieht, keine aufschiebende Wirkung ...
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10. Kosten des Widerspruchsverfahrens
Was kostet das Widerspruchsverfahren?
Für die Durchführung des Vorverfahrens erhebt die Behörde in der Regel keine Kosten.
Die Rechtsanwaltskosten für das Widerspruchsverfahren werden nach dem RVG in Höhe einer Geschäftsgebühr zuzüglich Auslagen und Umsatzsteuer berechnet. Bei einem erfolgreichen Widerspruch muss die Behörde die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Aufwendungen in der Regel tragen, § 63 Abs. 1 S. 1 SGB X.
Auch wenn das Verfahren gerichtskostenfrei ist: Wer einen Anwalt beauftragt, muss dessen Kosten im Regelfall zunächst selbst tragen. Nur wenn das Gericht die Kosten der Gegenseite auferlegt oder Prozesskostenhilfe gewährt wird, entstehen keine Belastungen.
weiterführende Beiträge zu Rechtsanwaltsgebühren:
- Rechtsanwaltsgebühren Sozialrecht: RVG Berechnung & Kosten
Berechnung der Rechtsanwaltsgebühren im Sozialrecht nach RVG. Dieser Leitfaden erklärt Geschäftsgebühren, Verfahrensgebühren & Besonderheiten für Mandanten und Kollegen.
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... zur Höhe der Geschäftsgebühr für Widerspruchsverfahren gegen eine geringe z. B. vom Jobcenter geltend gemachte Mahngebühr ...
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11. Dauer und Bestand der Widerspruchsverfahren
Wie lange dauern Widerspruchsverfahren?
Wie viele Widerspruchsverfahren werden geführt?
Auf die Frage nach der Dauer der Widerspruchsverfahren enthält § 88 Abs. 2 SGG eine Antwort. Innerhalb von drei Monaten muss die Widerspruchsbehörde entscheiden. Ansonsten droht eine Untätigkeitsklage.
Statistische Daten zur Zahl der Widerspruchsverfahren sind insbesondere zu den Verfahren bei den Jobcentern, der Agentur für Arbeit und den Versorgungsämtern erhältlich:
- Hartz 4 und Bürgergeld – statistische Daten und Fakten
1. Leistungsberechtigte ... | 2. Zahl der Bedarfsgemeinschaften ... | 3. Zahlungsansprüche der Bedarfsgemeinschaften ... | 4. Widerspruchsverfahren ...
... | mehr - Statistiken zum Schwerbehindertenrecht und zum Verfahren
1. allgemeine statistische Daten zur Schwerbehinderung ... | 2. Daten zum Verwaltungsverfahren ... | 3. Widerspruchsverfahren | ... 4. Klageverfahren ...
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12. Muster eines Widerspruchs
An: [zuständige Behörde, z. B. Jobcenter / Krankenkasse / Rentenversicherung]
Von: [Ihr Name, Anschrift, BG-/Versicherungsnummer]
Betreff: Widerspruch gegen den Bescheid vom [Datum], Az. [Aktenzeichen]
Sehr geehrte Damen und Herren,
Hiermit lege ich Widerspruch gegen den oben genannten Bescheid ein.
Begründung:
Der Bescheid ist rechtswidrig, weil … [eigene Argumente/Unterlagen].
Ich bitte um Abhilfe und Übersendung eines Abhilfebescheides.
Sollte diesem Widerspruch nicht abgeholfen werden, erwarte ich einen rechtsmittelfähigen Widerspruchsbescheid.
Mit freundlichen Grüßen
[Unterschrift]
13. Häufige Fragen zum Widerspruchsverfahren
Wie berechne ich die Widerspruchsfrist?
Monatsfrist ab Bekanntgabe; bei einfachem Brief Zugangsfiktion am 3. Tag nach Aufgabe (§ 37 Abs. 2 S. 1 SGB X). Fällt das Fristende auf Sa/So/Feiertag, endet sie am nächsten Werktag.
Muss ein Widerspruch unterschrieben sein?
Ja. Schriftlich oder zur Niederschrift; elektronische Einlegung nur bei eröffnetem Zugang und formwahrend.
Muss der Widerspruch begründet werden?
Eine Begründung ist nicht zwingend, aber sinnvoll; sie kann nachgereicht werden.
Hat der Widerspruch aufschiebende Wirkung?
Grundsätzlich ja (§ 86a Abs. 1 SGG); Ausnahmen in § 86a Abs. 2 SGG.
Wie lange dauert ein Widerspruch?
Die Behörde soll innerhalb von 3 Monaten entscheiden (§ 88 Abs. 2 SGG); sonst Untätigkeitsklage möglich.
Akteneinsicht im Widerspruchsverfahren?
§ 84a SGG schließt § 25 Abs. 4 SGB X aus; Einsicht in der Behörde, Versand an RA nach Ermessen möglich.
Kosten des Widerspruchs?
Behörde erhebt regelmäßig keine Gebühren; Anwaltskosten nach RVG. Bei Erfolg Kostenerstattung nach § 63 SGB X.
14. Weiterführende Beiträge & Rechtsgrundlagen
Weiterführende Beiträge zur Rechtsbehelfsbelehrung, zum Begriff des Verwaltungsaktes, zu einem Widerspruch gegen eine Entscheidung des Jobcenters und zur Wirkung des Widerspruchs:
§ 25 SGB X · § 37 SGB X · § 62 SGB X · § 63 SGB X · § 66 SGG · § 78 SGG · § 83 SGG · § 84 SGG · § 85 SGG · § 86a SGG · § 88 SGG
Helge Smelders says
Sehr geehrter Herr Nippel,
vielen Dank für Ihre Ausführungen zum Widerspruch im Sozialverfahren! Mich würde noch interessieren, ob ein Widerspruch im Sozialrecht gegebenenfalls auch verschlimmernde Wirkung haben kann – ob also die prüfende Stelle entscheiden kann, dass der Ursprungsbescheid (gegen den Widerspruch eingelegt wurde) zu Ungunsten des Widerspruchführenden abgeändert wird?
Mit freundlichen Grüßen
Helge Smelders